Die Geschichte der Juden auf Norderney beginnt im frühen 19. Jahrhundert. Sie wurde vor allem von Gästen geprägt, während die Zahl der dauerhaft auf Norderney lebenden Juden gering blieb. Die Synagoge, erbaut 1878, war ein Zeichen des aufblühenden jüdischen Lebens auf der Insel, aber ihre Nutzung beschränkte sich auf die Sommermonate. Die nationalsozialistische Ära brachte eine abrupte Unterdrückung und Vertreibung der jüdischen Gemeinschaft. Heute tragen Erinnerungsprojekte dazu bei, die Geschichte der jüdischen Bevölkerung auf Norderney lebendig zu halten.
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Jüdisches Leben
Bereits früh in der Geschichte des Seebades Norderney sind jüdische Badegäste auf den Fremdenlisten vermerkt. 1820 führte eine der Listen zwei „israelitische Handelsleute“ aus Wittmund und ein „israelitischer Handelsmann“ aus Norden auf. Etwa zur gleichen Zeit gab es bereits erste jüdische Händler auf der Insel, die zur Badesaison ihre Waren anboten, zunächst in einfachen Buden vor dem Conversationshaus, später auch im sogenannten Bazar, wie der Konditor Goldstein aus Norden, der sich im Jahr 1840 auch um die Konzession für eine israelitische Garküche bemühte.
1845 eröffnete der Schlachter Abraham von der Wall sein jüdisches Restaurant und ließ sich auf der Insel nieder. In den folgenden Jahrzehnten kamen weitere in jüdischer Hand befindliche Geschäfte, Hotels und Restaurants hinzu. Die meisten dieser Geschäfte und Betriebe waren allerdings nur zur Saison geöffnet. 1910 eröffnete das erste jüdische Kinderheim (bis 1933 betrieben von der Zionloge Hannover, heute Fachklinik Thomas Morus der Caritas, Benekestraße 44).
Trotz der Zunahme an Geschäften blieb die Zahl jüdischer Einwohner in Norderney gering. 1867 sind es sechs, 1871 neun. Zwar nahm die Zahl bis 1885 auf 31 deutlich zu, doch geht dies auch mit einem starken Zuwachs der Gesamteinwohnerschaft Norderneys sowie der Zunahme der Gästezahlen einher. In den nachfolgenden Jahrzehnten blieb die Zahl der jüdischen Einwohner mit etwas mehr als 30 konstant, bei einer Gesamteinwohnerzahl von etwa 4.000 um 1900 und 5.500 in den 1920er Jahren. Norderney war dabei keine selbstständige jüdische Synagogengemeinde, sondern eine Filialgemeinde der Gemeinde in Norden.
Zu den jüdischen Einwohnern kamen noch eine Zahl jüdische Saisonarbeiter, die nur während der Badezeit in den verschiedenen Hotels und Geschäften angestellt waren. 1925, als die Volkszählung statt wie früher im Dezember im Juni, also zu Beginn der Saison, abgehalten wurde, kann man den Umfang der jüdischen Saisonkräfte gut fassen. 88 Juden wurden in diesem Jahr gezählt, zumeist Schlachtergesellen, Dienstmädchen, Kindergärtnerinnen, Handlungsgehilfen, Kaufleute und Hoteliers.
Bei den Reichstagswahlen sowie bei den Gemeindewahlen im März 1933 wurde die NSDAP auf Norderney stärkste Kraft. Am 18. Juli wurde Bürgermeister Lührs beurlaubt, wie man es nannte, und die Bürgermeisterstelle von der Gauleitung in Oldenburg mit einem Parteifunktionär besetzt. Auch die Leitung der Badebetriebsgesellschaft wurde zur selben Zeit ausgetauscht. Innerhalb kürzester Zeit wurde Norderney auf Linie gebracht. Den Nationalsozialisten war anfangs vor allem daran gelegen, den Ruf Norderneys als `Judenbad`, ein für alle Male zu beseitigen.
Bereits 1935 sank die Zahl der jüdischen Einwohner auf 9. Lediglich zwei Geschäfte blieben noch 1934 in jüdischer Hand, sämtliche anderen mussten schließen. Die jüdischen Eigentümer und Geschäftsinhaber wurden innerhalb kürzester Zeit aus dem Seebad verdrängt, ihre Häuser zwangsverwaltet und versteigert.
Synagoge
Seit Mitte des 19. Jahrhunderts war während der Saison in der Restauration von Abraham van der Wall, Osterstraße 1, während der Saison eine Betstube eingerichtet. Bereits in den 1870er Jahren war das Bethaus für die immer zahlreicheren jüdischen Badegäste und Einwohner zu klein geworden.
„Dieses Bethaus hat jedoch mancherlei Übelstände, besonders ist es wegen seines beschränkten Raumes der Gesundheit der zum Gebete sich versammelnden schädlich, weshalb es schon längst der Wunsch der alljährlich das Bad besuchenden Gäste jüdischen Glaubens war, dass ein würdiges Gotteshaus auf Norderney hergestellt würde“, schreibt der Landesrabbiner Dr. Buchholz aus Emden 1877.
Im gleichen Jahr gründete sich ein Komitee aus dem Kreis der jüdischen Kurgäste, mit dem Ziel, auf Norderney eine Synagoge zu errichten. Aufgrund der besonderen Situation, dass auf Norderney eine Synagoge ohne Gemeinde geplant war, wurde der Antrag an das preußische Innenministerium weitergeleitet. Dieses erhob keine Einwände, worauf im Winter/Frühjahr 1878 mit dem Bau begonnen wurde, der Anfang Juli bis auf die innere Ausstattung fertig gestellt war. Architekt war Edwin Opler, Baurat aus Hannover. Die feierliche Einweihung fand am 9. August 1878 statt.
Für die Übernahme der Unterhaltungskosten, die normalerweise eine Gemeinde trägt, wurde im Juni 1878 vom Komitee die Gründung für eine „milde Stiftung Synagoge auf der Insel Norderney“ beantragt. Nach einem langen Instanzenweg erhielt die Stiftung im Oktober 1879 die Genehmigung.
Gottesdienste fanden in der Synagoge nur während der Sommermonate statt, zuletzt im Sommer 1933. Die Verwaltung und Betreuung der Synagoge hatte vor 1914 Moses von der Wall, seit den 1920er Jahren der Hotelier Julius Hoffmann (Hoffmanns Hotel Falk, Bismarckstraße/Ecke Roonstraße) inne. Vorsitzender der Synagogenstiftung war zuletzt Dr. Blum aus Emden, letzter Kantor war Herr Fellner aus Wien.
Seit 1933 fanden in der Synagoge keine Gottesdienste mehr statt, da nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten jüdische Badegäste nicht mehr geduldet waren. Die Kultgeräte wurden von Landrabbiner Dr. Samuel Blum nach Emden überführt. Im Juli 1938 wurde die Synagoge für 3.500 RM an einen Norderneyer Eisenwarenhändler verkauft. Dadurch entging sie der Zerstörung in der Pogromnacht vom 9. November 1938.
Bäderantisemitismus
Das Seebad Norderney war schon seit der Gründungszeit ein beliebter Urlaubsort für jüdische Badegäste. Im Gegensatz zu vielen anderen Seebädern an Ost- und Nordsee konnten Juden hier unbeschwert die Sommerfrische genießen. So heißt es in der Zeitung „Der Israelit“ im Jahr 1904 über Norderney: „Im Ganzen aber leben hier, namentlich am Strande, alle Schattirungen in voller Eintracht friedlich nebeneinander.“ Hingegen war das Seebad Borkum als antisemitisch weithin bekannt.
Diese Form des Antisemitismus wird unter dem Begriff des Bäderantisemitismus zusammengefasst. Er beschreibt die Diskriminierung, Verfolgung und Verdrängung von jüdischen Menschen in Zusammenhang mit deren Besuchen in Kurorten und Badeeinrichtungen. Heute zeigen sich die Dimensionen dieser Judenfeindschaft, da sie mit Postkarten, Gedichte und Liedern aus dieser Zeit belegt sind: „Doch wer dir naht mit platten Füßen, mit Nasen krumm und Haaren kraus, der soll nicht deinen Strand genießen, der muss hinaus! Der muss hinaus! Hinaus!“, heißt es am Ende des sogenannten Borkumliedes, das massenweise auch auf Postkarten abgedruckt wurde.
Jüdische Tageszeitungen veröffentlichten schon am Ausgang des 19. Jahrhunderts Listen mit antisemitischen Bade- und Kurorten, um ihre jüdischen Leser zu informieren und vor einem Besuch dieser Orte zu warnen. Dabei nahm die Zahl Anfang des 20. Jahrhunderts deutlich zu. Umfassten die ersten Listen etwas 30 Orte, darunter die ostfriesischen Nordseebäder Borkum und Juist, nahm die Zahl vor allem nach dem Ersten Weltkrieg stetig zu. Ende der 1920er Jahren waren aus diesen noch überschaubaren Listen umfangreiche, mehrseitige Aufstellungen geworden. Wenn nicht ganze Badeorte, waren auch einzelne Hotels, die sich oft als „christliche Hotels“ bezeichneten, aber tatsächlich antisemitisch waren, aufgeführt. In der Liste der „Central-Verein-Zeitung. Blätter für Deutschtum und Judentum“ waren 1929 neben Borkum auch Juist und Langeoog als überwiegend judenfeindlich benannt, in den übrigen Seebädern auf den ostfriesischen Inseln gab es zumindest einzelne Häuser, die keine Juden aufnahmen, so etwas das Hotel Engehausen auf Norderney – gänzlich frei von antisemitischen Umtrieben war also auch das Seebad Norderney nicht.
Der Bäderantisemitismus offenbarte sich in verbalen und propagandistischen Attacken, entweder im Kreise der Antisemiten, indem etwa Vorträge über das „jüdische Unwesen“ gehalten wurden, oder in der direkten Konfrontation mit jüdischen Badegästen, die denunziert, beleidigt und bedroht wurden. Doch dabei blieb es nicht, vor allem nach dem Ersten Weltkrieg nahmen die Übergriffe zu. Juden wurden angegriffen, misshandelt und aus den Kurorten gejagt. Das Seebad Norderney trotzte dieser Entwicklung und war seitens der Antisemiten und Völkischen als „Judenbad“ Ziel zahlreicher verbaler Angriffe, ob in Gedichten, Liedern oder auf Postkarten.
Mit der ab 1933 nationalsozialistisch geführten Verwaltung Norderneys wurde jüdischen Badegästen mitgeteilt, dass sie nun nicht mehr im Seebad Norderney erwünscht seien. Anfang 1934 wurden schließlich an sämtliche überregionale jüdische Tageszeitungen vermeldet, dass die Anwesenheit von jüdischen Gästen auf Norderney nicht mehr geduldet wurde. „Im Interesse aller Nichtarier bitten wir Sie, in Ihrer Presse daraufhinzuweisen, dass es zwecklos ist und nur unnötige Kosten verursacht, wenn von diesen Personen eine Reise nach Norderney unternommen wird“, heißt es zum Ende des kurzen Schreibens.
Das nunmehr „judenfreie Norderney“ wurde weiterhin propagandistisch ausgeschlachtet. Höhepunkt dieser Aktionen war die Herausgabe neuer Briefverschlussmarken seitens der Badeverwaltung mit der für Norderney weithin bekannten Frauenfigur und dem Spruch „Norderney ist judenfrei“. Zwar wurde diese Marke recht schnell aufgrund negativer Berichterstattung in der ausländischen Presse wieder eingezogen, doch war dies der letzte, kleine Sieg, den die Gegner des NS-Regimes erzielten. Letztlich war es aber nicht möglich, diese Entwicklung zurückzudrehen. Das ehemals von vielen jüdischen Badegästen gern besuchte, traditionsreiche Seebad war und blieb „judenfrei“.
Erinnerungsarbeit
Zum 50. Jahrestag des Novemberpogroms 1938 wurde im Haus der Insel 1988 eine Gedenktafel mit der Inschrift angebracht: „Zum Gedenken an die jüdischen Mitbürger der Stadt Norderney, die durch nationalsozialistischen Terror eines gewaltsamen Todes sterben mussten oder vertrieben wurden. Den Lebenden zur Mahnung 9.11.1988 Der Rat der Stadt Norderney“. Nach dem Abriss des Hauses der Insel befindet sich die Gedenktafel übergangsweise im Stadtarchiv Norderney. Eine Wiederaufstellung ist angedacht.
1996 wurde an der ehemaligen Synagoge in der Schmiedestraße eine Gedenktafel angebracht: „Ehemalige Synagoge (1878-1933). Dieses Gebäude wurde als Bethaus für jüdische Bürger und Gäste errichtet. Im Juli 1938 verkauft, entging es der Zerstörung in der Pogromnacht vom 9. November des Jahres. Zur Erinnerung und zum Gedenken.“
Am 22. Februar 2013 verlegte Gunter Demnig auf Initiative Norderneyer Schülerinnen und Schüler vor vier Gebäuden acht Stolpersteine für die ermordeten Norderneyer Jüdinnen und Juden.
Im Museum Nordseeheilbad Norderney befindet sich ein Ausstellungsbereich zum jüdischen Leben und dem Bäderantisemitismus. Auch ein Vortrag zu diesen beiden Themen wird angeboten.
Weblinks
Text/Bilder: Matthias Pausch, M. A., Stadtarchiv Norderney