Die jüdische Gemeinschaft in Neustadtgödens etablierte sich im 17. Jahrhundert. Infolge der jüdischen Emanzipation organisierte sich die jüdische Bevölkerung ab dem 19. Jahrhundert in den sich gründenden Vereinen. Die Synagoge, 1854 erbaut nach einem Entwurf von Karl Friedrich Schinkel, symbolisierte das Selbstbewusstsein der jüdischen Gemeinde und wurde später restauriert und als Baudenkmal ausgewiesen.
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Jüdisches Leben
Die ersten drei jüdischen Familien von Neustadtgödens finden sich 1639 im Einnahmeregister der Herrlichkeit Gödens. Sie hatten den so genannten „Judentribut“ zu entrichten, der ihnen ein Bleiberecht gestattete. Der erste Schutzbrief, der den Juden auch juristisch ein zeitlich begrenztes Ansiedlungsrecht garantierte, datiert aus dem Jahr 1660. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts zahlten nicht weniger als elf jüdische Haushaltsvorstände an Neujahr ihr Schutzgeld. Mitte des 19. Jahrhunderts war jeder vierte Bewohner Neustadtgödens jüdischen Glaubens.
Die jüdische Bevölkerung in Neustadtgödens lebte in der Regel gut nachbarschaftlich und auf Augenhöhe mit den Christen zusammen. Der gesamte Ort beteiligte sich an besonderen Ereignissen der jeweiligen Glaubensgemeinschaften. Die 1852 fertiggestellte Synagoge zeugt von einem selbstbewussten Auftreten im Ort.
Die Akzeptanz der jüdischen Mitbürger im Ort lässt sich auch im politischen Leben ablesen, nachdem seit 1869 die Möglichkeit dazu bestand. 1889 stellten sich zwei jüdische Gemeindemitglieder zur Beigeordnetenwahl des Fleckenvorstehers. 1893 waren von elf Gemeinderatsmitgliedern fünf jüdischen Glaubens.
Infolge der jüdischen Emanzipation organisierte sich die jüdische Bevölkerung in den sich gründenden Vereinen. Schon 1861 gab es fünf jüdische Mitglieder im Schützenverein. Der 1875 gegründete Kriegerverein wurde in seinen Anfangsjahren durch zwei jüdische Bürger geleitet, ebenso die freiwillige Feuerwehr. Es gab aber auch Vereine, die nur der jüdischen Bevölkerung vorbehalten waren.
Die liberale Haltung gegenüber der jüdischen Bevölkerung blieb auch dann noch bestehen, als in den umliegenden Gemeinden die NSDAP und andere völkische Gruppen erstarkten. In Neustadtgödens scheint die Transformation von einem eher liberalen Umfeld hin zu einer von der NSDAP dominierten Ortsstruktur vor allem über die Jugendorganisationen vorbereitet worden zu sein. Während der Machtergreifung der Nationalsozialisten lebten noch zwölf Personen jüdischen Glaubens in Neustadtgödens. Die antijüdische Agitation machte es den verbliebenen Familien schwer, wie auch Robert de Taube in seinem Erlebnisbericht bezeugt: „Es fing schon an im Jahre 1933 – Boykott, Umstürzen der Milchkannen an der Straße von Horsten nach Blauhand. […] Ferner durch Anbringen eines Plakates – Juden unerwünscht – am Eingang zu der zum Hofe führenden Allee.“
Die Synagoge von Neustadtgödens
Die erste urkundliche Erwähnung einer Synagoge in Neustadtgödens stammt aus dem Jahre 1752. Sie befand sie sich bereits auf dem Grundstück der heute noch bestehenden Synagoge. Das auch als Bethaus oder Judenschule bezeichnete Gebäude lag, wie es die Auflagen vorsahen, in zweiter Reihe hinter einem der Straße zugewandten Haus.
1854 ließ die jüdische Gemeinde eine freistehende Synagoge vom Typus der kleinen Stadtsynagoge errichten. Den Musterentwurf fertigte Karl Friedrich Schinkel (1781-1841), nach dem auch die Synagoge in Varel erbaut wurde. Die repräsentative Vorderseite mit hebräischen Inschriften im Giebel und dem Rundbogen, die heute nicht mehr vorhanden sind, und dem Davidstern auf dem Giebel zeugen von einem gleichberechtigten Nebeneinander der verschiedenen Gotteshäuser.
1936 schloss die jüdische Gemeinde auf Druck der NS-Behörden die Synagoge. Als Grund gab man die angebliche Baufälligkeit des Gebäudes an. 1938 verkaufte die Gemeinde das Haus an den Zimmermann Fritz Onken. Diesem Umstand ist es auch zu verdanken, dass die Synagoge während der Reichspogromnacht nicht angezündet wurde. Nach 1945 nutzten Privatleute das Gebäude als Wohnhaus und zogen eine Zwischendecke ein. 1961 erwarb die Gemeinde Gödens das Haus und baute es zu einer Feuerwehrstation um, die bis 1986 genutzt wurde. Erst danach setzte ein Umdenken der politisch Handelnden ein. Die Fassade ließ man weitestgehend wiederherstellen und das Gebäude als Baudenkmal ausweisen. Zwar ist die ehemalige Synagoge seit 2003 in Privatbesitz, im Untergeschoss ist jedoch eine Ausstellung zur Synagoge zugänglich.
Jüdischer Friedhof
Die jüdischen Familien baten am 10. Januar 1708 um die herrschaftliche Genehmigung zur Anlage eines Friedhofes. Bis dahin hatten sie ihre Toten auf dem Friedhof in Wittmund beigesetzt. Die Herrschaft unter Graf Burchard Philipp von Frydag wies ihnen ein Grundstück auf dem sogenannten Maanlande an der Chaussee von Neustadtgödens nach Schloss Gödens zu. 1764 wurde der Friedhof erweitert.
In der NS-Zeit muss der Friedhof abgeräumt worden sein. Die Grabsteine wurden angeblich als Panzersperren benutzt, es fehlt allerdings eine Quelle zu dieser Information. Nach 1945 wurden sie wieder auf den Friedhof zurückgebracht. Abgesehen von den Grabsteinen nach 1945 stehen die meisten Steine nicht an der Stelle der Gräber. 1953 wurde der Friedhof der JTC (Jewish Trust Corporation) übertragen. Seit 1960 ist er Eigentum des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden von Niedersachsen.
In den Jahren nach 1945 wurden noch mehrere Beisetzungen vorgenommen (Rosa de Taube geb. Weinberg 1948, Samuel de Taube 1949, Alfred Weinberg 1974). Die letzte war die des Landwirtes Robert de Taube, Eigentümer des „Horster Grashauses“. Er hatte die Zeit des Zweiten Weltkrieges versteckt und unter falschem Namen in Berlin überlebt. Er starb 1982. Auf dem Friedhof sind heute 84 Grabsteine erhalten.
Mikwe (jüdisches Ritualbad)
Die Mikwe in Neustadtgödens befand sich in einem Haus, das der jüdischen Gemeinde gehörte und in der Staustraße etwa 300 Meter entfernt von der Synagoge lag. Ein kleines Zimmer dieses Gebäudes diente als Gemeindebad, wurde aber nach einem Bericht aus dem Jahre 1919 schon seit Jahren nicht mehr zu diesem Zweck genutzt. Da man das Gebäude somit als entbehrlich ansah, beschloss die jüdische Gemeinde am 2. September 1919 seinen Verkauf. In der Scheune des Hauses soll der jüdische Leichenwagen seinen Platz gehabt haben.
Jüdische Schule
Die Gemeinde beschäftigte aus finanziellen Gründen zunächst vor allem polnische Juden, die zwar einen niedrigen Bildungsgrad besaßen, sich aber in der Heiligen Schrift auskannten und die rituellen Vorschriften des Schächtens kundig waren. Diese Wanderlehrer hatten einen sehr niedrigen sozialen Stand. Sie konnten nur so lange im Ort verweilen, wie sie das Lehreramt ausübten. Ihnen wurden keine Schutzbriefe durch die Herrlichkeit ausgestellt, die ihnen eine Zukunft im Ort ermöglichte. Häufige Lehrerwechsel führten dazu, dass die Schüler nur durch Religionskundige im Ort unterrichtet wurden.
Die jüdische Schule in Neustadtgödens befand sich zunächst in der alten Synagoge oder wurde in einem Privathaus abgehalten. 1832 wurde ein Haus direkt neben der Synagoge käuflich erworben, abgerissen und als Schulhaus wiederaufgebaut. 1903 war die Schule zu klein geworden und zog daher in ein Privathaus gegenüber der Synagoge um. Die Schule war auf die Schulgeldeinnahmen angewiesen. Mit der Etablierung einer eigenen Synagogengemeinde in Wilhelmshaven brachen der Gemeinde die Einnahmen weg. 1921 wurden nur noch sechs Kinder unterrichtet, sodass im Folgejahr die Schule schloss.
Katholische Missionsstelle
Mit der Heirat des Häuptlings Franz Ico von Frydag mit Elisabeth Margarethe von Westerholt wurde das Haus Gödens katholisch. 1692 setzte deren Sohn Franz Heinrich von Frydag den Jesuitenpater Petrus Fleurque in Neustadtgödens ein, der hier die einzige katholische Mission im sonst protestantischen Norden einrichtete. Um der Mission auch eine Unterkunft zu gestatten, kaufte 1694 der Landrichter Füllen für 1150 Gulden dem Juden Sander Nathans ein Haus in der Staustraße in Neustadtgödens ab. Zwei Jahre später übertrug der Landrichter das Haus an den Jesuitenpater Petrus Fleurque. Allerdings verbot der Graf, dass sich die Missionare zu stark missionarisch betätigen sollten. So diente die Missionsstelle vornehmlich als Kirche. Das Haus steht immer noch in der Kirchstraße/Ecke Staustraße. Es ist somit der älteste Beleg, der jüdischen Hausbesitz dokumentiert.
Horster Grashaus
1674 verschuldete sich die Fürstin Christine Charlotte von Ostfriesland bei dem Hofjuden Meyer Calman, der u. a. reichsweit im Auftrage des Fürstenhauses Wechselgeschäfte betrieb. Als Sicherungsmittel verschrieb ihm die Fürstin im Gegenzug das Horster Grashaus. Nach Meyer Calmans Tod verpachtete der Amtmann Jehring 1687 widerrechtlich den Hof an Johann Braems. Daraufhin erreichte der Schwiegersohn Calmans, Aron Beer Abraham beim Ostfriesischen Hofgericht und kaiserlichen Reichshofrat die Einsetzung in das Horster Grashaus.
1917 kam das Grashaus unter Samuel de Taube erneut in jüdischem Besitz. Die de Taubes stammten aus Neustadtgödens, wo sie seit dem 18. Jahrhundert beheimatet waren und Landwirtschaft betrieben. Das Grashaus mit der dazugehörigen Landwirtschaft war ca. 150 ha groß und im 18. Jahrhundert einmal einer der größten Marschhöfe Ostfrieslands gewesen.
Die de Taubes betrieben hier Land- und Viehwirtschaft, wobei sie sich vor allem der Pferdezucht widmeten. Seit 1923 waren Robert de Taube und sein Bruder Ernst Pächter des Horster Grashauses, das sich noch im Besitz ihres Vaters befand. In den 1930er Jahren erhielten auf diesem Anwesen Emigranten eine landwirtschaftliche Ausbildung, die nach Palästina auswandern wollten.
Im Zuge der Reichspogromnacht wurden die Brüder de Taube in das KZ Sachsenhausen verschleppt, Samuel de Taube und seine Frau Rosa emigrierten nach Großbritannien. Ihr Besitz wurde währenddessen von den Nationalsozialisten an verschiedene Bauern der Umgebung verpachtet, der andere Teil war von dem Kreisbauernführer der Region eingenommen worden. Nach der Rückkehr der Familie de Taube 1946 dauerte es noch bis 1954, bis sie das Landgut wieder vollständig in Besitz zu nehmen konnten.
Erinnerungsarbeit
Museum im Landrichterhaus: macht in regelmäßigen Abständen Ausstellungen zur jüdischen Geschichte des Ortes.
Gedenktag gegen das Vergessen am 09. November in der ehemaligen Synagoge. In diesem Jahr wird Hartmut Peters aus seinem Buch „das offene Versteck“ lesen.
Weblinks
- www.sande.de/tourismus-freizeit/neustadtgoedens/
- www.erinnerungsorte-friesland.de: setzt sich für nachhaltige Aufklärung über den verbrecherischen und terroristischen Charakter des nationalsozialistischen Regimes und für das Gedenken an die Opfer ein.
- www.pogrome1938-niedersachsen.de
- App: Spurensuche Neustadtgödens. Mit der virtuellen Rekonstruktion des Synagogeninneren, zwei Hörspielen und zwei Rundgängen durch den Ort (Android/ Apple iOS)
Text/Bilder: Stephan Horschitz MA