Die jüdische Präsenz in Leer lässt sich seit dem frühen 17. Jahrhundert nachweisen, als erste Juden im Flecken Leer erwähnt wurden. Unter der preußischen Herrschaft und später wuchs die Gemeinde, die vorrangig im Schlachtergewerbe und im Viehandel tätig war. Die Synagoge an der Heisfelder Straße, 1885 eingeweiht, war das Zentrum des religiösen und kulturellen Lebens der Gemeinde.
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Jüdisches Leben
Seit Anfang des 17. Jahrhunderts gab es erste Belege für die Präsenz von Juden im Flecken Leer. Die erste Eintragung findet sich im reformierten Kirchenbuch, das den „Joed Jacob“ erwähnt. Unter Graf Ulrich II. und später unter der Regentin Christine Charlotte wuchs die Zahl auf 5 Schutzjuden an sowie eine weitere Anzahl von Juden, die keine finanziellen Mittel besaßen, um die Gebühren für einen Schutzbrief zu zahlen. Unter der relativen Toleranz der preußischen Herrschaft wuchs die Gemeinde. Im Jahr 1804 waren im Flecken Leer 127 Juden ansässig.
Juden waren vorrangig im Schlachtergewerbe und im Viehhandel beteiligt. Sie hatten Anteil am Aufschwung des Leeraner Viehmarktes.
An verschiedenen Standorten errichtete die Gemeinde Synagogen, die Orte der Versammlung und des Gottesdienstes waren. Die Gemeinde war orthodox geprägt und Ende des 19. Jahrhunderts bildete sich eine Gruppe, die Reformen wollte und kurzzeitig austrat. Durch die Vermittlung von Landrabbiner Dr. Jonas Löb kehrten die Ausgetretenen wieder in die Gemeinde zurück. Die letzte Synagoge an der Heisfelder Straße wurde 1885 eingeweiht.
In der Stadt Leer entstand eine jüdische Infrastruktur, die eine Synagoge, Mikwe, Schule, Friedhof und ein koscheres Restaurant umfasste. Diese ermöglichte ein observantes Leben.
Jüdinnen und Juden waren Teil der Stadtgesellschaft und gehörten zum kulturellen und wirtschaftlichen Leben. Antisemitische Agitationen wurden Ende des 19. Jahrhundert auch in Leer lauter. Zur Abwehr gründete sich im Jahr 1921 auf jüdischer Seite eine Leeraner Ortsgruppe des CV (Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens), die Aufklärungsarbeit gegen Verleumdungen leistete.
Ende März 1933 verbrannten SA-Leute am Uferplatz Schächtmesser und zwei Wochen später wurde das Schächtverbot erlassen. Die nationalsozialistische Ausgrenzungspolitik führte zur Verdrängung und Vertreibung von Jüdinnen und Juden aus dem wirtschaftlichen Leben. Die Pogromnacht, die Zerstörung der Synagoge auf Geheiß des Bürgermeisters Erich Drescher, die Zerstörung von Eigentum jüdischer Bevölkerung und die Verschleppung von Juden in das KZ Sachenhausen wirkten traumatisch auf die hiesige Synagogengemeinde. Mit der Ausweisung der Jüdinnen und Juden aus Ostfriesland auf Anweisung der ostfriesischen Landräte im Frühjahr 1940 wurde die über Jahrhunderte gewachsene Präsenz in Leer und Ostfriesland politisch beendet.
Nach der Befreiung kehrten einige wenige Überlebendende der Shoa nach Leer zurück. Die Geschwister Albrecht, Diedrich und Friedel Weinberg überlebten das Vernichtungslager Auschwitz während ihre Eltern, Flora und Alfred und weitere Familienangehörige dort ermordet wurden. Nachdem Diedrich in Leer ums Leben kam, beschlossen die Geschwister Albrecht und Friedel Deutschland zu verlassen, und nach Amerika 1947 auszuwandern.
Wenige Überlebende der Shoa kehrten nach Leer zurück und blieben. Ihre Biografien waren „gebrochen“, Familienmitglieder wurden in Lagern ermordet. Im Alltag erlebten sie wieder Antisemitismus und Anfeindungen. Nach dem Krieg konstituierte sich keine jüdische Gemeinde mehr in Leer.
Synagogen in Leer
Der reformierte Pastor Wessel Onken beschrieb in seiner Chronik über den Flecken Leer, dass sich in der Kirchstraße im Packhaus „die drei Kronen“ eine erste Synagoge befand. Sie umfasste einen durch Gitter abgrenzten Bereich (Mechiza) für Männer und für Frauen sowie Ritualgegenstände für den jüdischen Gottesdienst. Bereits 1690 gab es neben der Synagoge auch eine Schule.
Später, 1767, baute die Gemeinde einen Neubau in der damaligen Dreckstraße (heutige Norderstraße). Wessel Onken beschrieb neben den Ritualgegenständen ebenfalls die feierliche Einführung einer neuen Thorarolle in die Gemeinde.
Im Jahr 1793 erbaute die Gemeinde ihre dritte Synagoge, die bis 1885 für Gottesdienste und Versammlungen genutzt wurde. Familie Katz unterstützte den Erwerb des Grundstücks an der Pferdemarktstraße und die Errichtung der ersten jüdischen Elementarschule. Ury Katz und sein Sohn Salomon pflegten Geschäftsbeziehungen nach Amsterdam, was ihnen Wohlstand einbrachte. Das Inventarium der Synagoge bezifferte die beträchtliche Anzahl von 6 Thorarollen samt Thoraschmuck und Zeiger sowie Utensilien zum Backen von Mazzot für Pessach.
Das stetige Wachstum der Synagogengemeinde erforderte einen Neubau an der Heisfelder Straße, der 1883 begann und 1885 fertig gestellt wurde. Zu diesem Zeitpunkt umfasste die Gemeinde 306 Mitglieder, die größte Anzahl in ihrer Geschichte. Der Architekt Ferdinand Schorbach entwarf den Grundriss der Synagoge in Form eines Kreuzes. An die Synagoge angegliedert befand sich die Wohnung des Kultusbeamten und die Mikwe, das jüdische Ritualbad zur Erlangung von ritueller Reinheit für Männer und Frauen. Letzter Kultusbeamte war Josef Wolffs, der gemeinsam mit seiner Frau Ida in der angegliederten Wohnung wohnte.
Im Rahmen eines großen Festprogramms wurde am 28. Mai 1885 die neue Synagoge eingeweiht.
Noch 1935 feierte die Gemeinde ihr 50-jähriges Jubiläum, was in der jüdischen Presse, in der orthodoxen Zeitung „Der Israelit“, besprochen wurde.
In: Der Israelit 4.7.1935 (nachzulesen bei Compact Memory)
Auf Geheiß des Bürgermeisters Erich Drescher wurde in der Pogromnacht die Synagoge in Brand gesteckt, Jüdinnen und Juden aus ihren Wohnungen getrieben und zu den Viehhofanlagen zur Nesse getrieben. Auch die Familie Hirschberg, die in der Lehrerwohnung der jüdischen Schule wohnte, wurde nachts um 4 Uhr von bewaffneten Leeranern aus ihrem Haus gewaltsam zur Synagoge getrieben. Die Familie musste hilflos ansehen wie die Synagoge in Flammen stand. Bei dem jüngsten Sohn Hermann Michael, damals 12-jährig, hinterließen die Ereignisse traumatische Erinnerungen. Auch in einem späteren Interview – 50 Jahre danach – berichtete er von seiner Verzweiflung und Angst. Seine Mutter versuchte ihn, mit den folgenden Worten zu beruhigen: „Du brauchst nicht weinen. Merke Dir, dass man uns unseren Glauben niemals nehmen kann. Habe keine Angst.“
Nach der Pogromnacht war die Synagoge zerstört und geschändet und die angegliederte Wohnung des Kultusbeamten Wolffs unbewohnbar. Letzter Versammlungsort der Gemeinde bildet für kurze Zeit die jüdische Schule in der Ubbo-Emmius-Straße.
Der Jüdische Friedhof
Die Synagogengemeinde Leer legte im ersten Drittel des 17. Jahrhunderts zwischen dem Flecken Leer und Leerort einen jüdischen Friedhof an. In der Nähe des Hinrichtungsplatzes befand sich dieser. Noch heute ist dieser (Groniger Straße/Ecke Schleusenweg) erhalten. Nachdem der jüdische Friedhof 1822 vollbelegt war, erwarb die Gemeinde ein benachbartes Grundstück. Im Jahr 1898 erfolgte eine weitere Vergrößerung.
Der kleine jüdische Friedhof in Loga ist am Phillipsburger Park gelegen und wurde erstmalig 1828 erwähnt. Der Friedhof war in Besitz der Grafen von Wedel, die ihn jüdischen Familien zur Verfügung stellten.
Jüdische Schule
Die Synagogengemeinde und die jüdische Schule waren eng mit einander verbunden. Eine jüdische Schule ist für eine funktionierende jüdische Intrastruktur fundamental. Die erste jüdische Schule in Leer wurde 1803 in der Kirchstraße eingerichtet. Als erster jüdischer Lehrer wurde Abraham Heckscher benannt. Seit den 1830er Jahren waren im Königreich Hannover staatlich beaufsichtigte Religionsschulen Pflicht, in denen religiöses Wissen und weltliche Fächer unterreichtet wurden. Ab 1842 trat das „Gesetz über die Rechtsverhältnisse der Juden“ in Kraft, was auch im Landrabbinatsbezirk Emden galt.
Die Kinder der jüdischen Gemeinde wurden an den jeweiligen Synagogenstandorten (Dreckstraße, Pferdemarkstraße) unterrichtet. Nach Schwierigkeiten bei der Aufbringung des Lehrergehalts stabilisierte sich die Situation für die Gemeinde. Im Jahr 1883 wurden 38 Kinder der Gemeinde unterrichtet. Ab 1909 entschied die Gemeinde, eine Schule an der damaligen Deichstraße (heute Ubbo-Emmius-Straße 12) zu bauen. Am 27. Mai 1910 wurde die “Israelitische Elementarschule zu Leer“ eingeweiht, die in Nachbarschaft zur Synagoge an der Heisfelder Straße stand.
Das Gebäude der Elementarschule diente, wie früher üblich, als Lehrerwohnung. In der neugebauten Schule wurde ebenfalls ein „Betsaal“ realisiert, der die Möglichkeit für Versammlungen bot.
Vier Lehrer wirkten an der jüdischen Schule nacheinander, die jeweils mit ihren Familien im Gebäude wohnten. Die Lehrer, die in der jüdischen Elementarschule unterrichteten, waren gleichzeitig im Dienst der Synagogengemeinde tätig. Jüdische Kinder von 6 bis 14 Jahren wurden in der Schule unterrichtet. Neben allgemeinbildenden Fächern wurden ebenfalls religionsbezogene Fächer gelehrt. Ein Einblick über den Fächerkanon der Schule gibt das Zeugnisheft von Senta Driels, Schülerin an der Ubbo-Emmius-Straße.
Nach der Einweihung der Schule unterrichtete Lasser Abt. Er wohnte – wie alle anderen folgenden Lehrern – mit ihren Familien im Haus. Bis zum Tod von Lasser Abt im Jahr 1922 stand er im Dienst der Gemeinde. Danach unterrichtete Ignatz Popper die jüdischen Kinder der Elementarschule. Auch er fungierte als Vorbeter bei Gottesdiensten und führte Trauungen und Beerdigungen durch. Bis zu seiner Pensionierung im April 1935 wirkte Ignatz Popper an der jüdischen Schule.
Daraufhin übernahm Hermann Spier die Aufgaben in der Schule und Gemeinde bis zu seiner ungewollten Versetzung im April 1938 durch die Regierung in Aurich. Seligmann Hirschberg, seine Frau Goldina und seine Söhne, Walter und Hermann Michael wohnten ab April 1938 in der Ubbo-Emmius-Straße. Sie mussten die Pogromnacht in Leer erleben. Danach war die Schule der letzte Versammlungsort der Gemeinde jenseits der Privathaushalte. Nach der Pogromnacht musste die Gemeinde für den Abriss und Abtransport der Synagogenreste selbst aufkommen, was sie in finanzielle Not brachte. Aus dieser finanziellen Zwangslage heraus musste die jüdische Gemeinde „Synagoge, Schule und Weide am Friedhof“ verkaufen. Nachdem die Stadt Leer das Haus erworben hatte, mietete zunächst die jüdische Gemeinde die Räumlichkeiten bis die Stadt die Räumung ankündigte. An dem 8. Juli 1939 verkündigt die Stadt Leer der Familie Seligmann Hirschberg, dass das Gebäude der jüdischen Schule geräumt werden muss und ersatzweise im städtischen Haus (Kampstraße 37) – ehemaliges Haus von Familie David Hirschberg – Räume hergerichtet werden würden. An diesem Standort wurden die letzten jüdischen Kinder unterrichtet.
Erinnerungsarbeit
Die Ehemalige Jüdische Schule Leer wurde im Jahr 2013 als Gedenk- und Begegnungsstätte in Trägerschaft des Landkreises Leer eröffnet. Sie ist eine der letzten „steinernen Zeugen“ der historischen Synagogengemeinde Leer neben den jüdischen Friedhöfen an der Groninger Straße und in Loga.
Aufgabe der Einrichtung ist es, an die jüdische Bevölkerung und die historischen Synagogengemeinden im Gebiet des heutigen Landkreises Leer zu gedenken und zu erinnern. Ebenfalls steht die jüdische Regionalgeschichte im Fokus der Vermittlungsarbeit des Hauses. Durch Veranstaltungen wird eine Brücke von der Geschichte zur Gegenwart jüdischen Lebens geschlagen. Eine Dauerausstellung, Sonderausstellungen, verschiedene Veranstaltungen zur Aktualität jüdischer Kultur und ein museumspädagogisches Programm umfassen die Angebote der Einrichtung.
Im Jahr 2022 wurden die ersten Stolpersteine in der Stadt Leer gelegt. Albrecht Weinberg, Schüler der einstigen jüdischen Schule Leer und Überlebender der Shoa, setzte sich persönlich für die grundsätzliche Entscheidung zur Verlegung ein. Die Initiativgruppe „Arbeitsgruppe Stolpersteine“ hat sich zur Aufgabe gemacht, einmal jährlich Stolpersteine zu verlegen und dabei besonderen Augenmerk auf die Begegnung mit Nachfahren zu legen.
Stadtarchiv Leer
Das Stadtarchiv Leer verwahrt neben der amtlichen Überlieferung auch nichtamtliche Überlieferung, Sammlungen und verschiedene Nachlässe. Die vom Stadtarchiv verwahrten Nachlässe beinhalten auch solche von jüdischen Einwohnern der Stadt Leer.
Neben der Verwahrung ist auch die Erforschung und die Anleitung zur Erforschung der Unterlagen im schulischen Kontext Aufgabe des Stadtarchivs.
Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit Ostfriesland e.V.
Die Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit sind in der Bundesrepublik Deutschland nach der Befreiung vom nationalsozialistischen Unrechtsstaat entstanden. Sie wissen von der historischen Schuld und stellen sich der bleibenden Verantwortung angesichts der in Deutschland und Europa von Deutschen und in deutschem Namen betriebenen Vernichtung jüdischen Lebens.
Begründet in der biblischen Tradition folgen sie der Überzeugung, dass im politischen und religiösen Leben eine Orientierung nötig ist, die Ernst macht mit der Verwirklichung der Rechte aller Menschen auf Leben und Freiheit ohne Unterschied des Glaubens, der Herkunft oder des Geschlechts.
Die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in Ostfriesland setzt sich ein für:
- Verständigung und Zusammenarbeit zwischen Christen und Juden bei gegenseitiger Achtung aller Unterschiede,
- Erinnerung an die Ursprünge und Zusammenhänge von Judentum und Christentum,
- Selbstbesinnung in den christlichen Kirchen hinsichtlich der in ihnen theologisch und geschichtlich verbreiteten Judenverachtung und Judenfeindschaft,
- Bewahrung der noch erhaltenen, vielfältigen Zeugnisse jüdischer Geschichte,
- Entfaltung freien, ungehinderten jüdischen Lebens in Deutschland,
- Achtung der Eigenständigkeit ethnischer Minderheiten,
- Solidarität mit dem Staat Israel als jüdischer Heimstätte.
Sie wendet sich deshalb entschieden gegen
- alle Formen der Judenfeindschaft: religiösen Antijudaismus, rassistischen und politischen Antisemitismus sowie Antizionismus,
- Rechtsextremismus und seine Menschenverachtung,
- Diskriminierung von Einzelnen und Gruppen aus religiösen, weltanschaulichen, politischen und ethnischen Gründen,
- Intoleranz und Fanatismus.
Vorsitzender ist Bürgermeister a.D. Wolfgang Kellner, Leer
Kontakt über email: info@gcjz-ostfriesland.de
Link zur Website: https://gcjz-ostfriesland.de/
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Text/Bilder: Susanne Bracht, Wolfgang Kellner, Jan Böttche, Stadtarchiv Leer, Landkreis Leer