Esens

Die jüdische Gemeinde in Esens geht auf das Jahr 1637 zurück, als der erste Schutzjude Magnus Phibelmans erwähnt wurde. 1702 erwarb die wachsende Gemeinde einen eigenen Friedhof, und bis 1744 wuchs die Zahl der jüdischen Haushalte auf 25. Die Juden von Esens waren vorwiegend im Vieh- und Textilhandel tätig und lebten bis zur nationalsozialistischen Verfolgung weitgehend integriert in der Stadtgemeinschaft.

Überschrift

Jüdisches Leben

Das Gründungsjahr der Esenser Synagogengemeinde ist unbekannt. Der erste namentlich bekannte Schutzjude in Esens, Magnus Phibelmans, wurde 1637 erwähnt. Bereits 1680 fand sich die erste Erwähnung einer Schule (Synagoge). Ihren eigenen Friedhof erwarb die wachsende Gemeinde 1702 am Mühlenweg, außerhalb der Stadtgrenzen. Zu dieser Zeit bestanden bereits 18 jüdische Haushalte (1711), diese Anzahl wuchs auf 25, nachdem Ostfriesland nach dem Tod des letzten ostfriesischen Grafen 1744 an Preußen gefallen war. Um diese Zeit lebten die meisten Juden vom Schlachtergewerbe oder vom Handel mit Textilien, vom Hausierhandel, einige vom Geld- oder Pfandleihgeschäft.

Der bürgerlichen Gleichstellung unter napoleonischer Herrschaft ab 1808 folgte nach kurzer Angliederung Ostfrieslands an Preußen (1813) im Jahr 1815 der Anschluss an das Königreich Hannover, was mit dem neuerlichen Entzug etlicher Rechte für die Juden einherging. Erst nach dem Wiederanschluss an Preußen 1866 erhielten die Juden 1869 die vollen Bürgerrechte.

Allmählich trat der Viehhandel deutlicher in den Vordergrund. Daneben existierten in Esens bis in die nationalsozialistische Zeit hinein zwei größere jüdische Textilgeschäfte: „Julius Frank Wwe. u. Co.“ am Markt und „Geschwister Weinthal“ am Herdetor.

Eine strikte Trennung zwischen jüdischen und christlichen Bürgern bestand um 1900 nur noch im Religiösen; in den übrigen Lebensbereichen hatten sich die Esenser Juden ihrer nichtjüdischen Umgebung weitgehend angepasst und lebten mit den übrigen Bürgern zumeist in guter Nachbarschaft. Sie waren Vereinsmitglieder, z.B. in der Schützencompagnie (Schützenkönig 1902: Simon Oppenheimer) und im Esenser Reiterkorps. Im Schulausschuss und im Bankwesen waren damals Juden ebenso zu finden wie in den kulturellen Vereinigungen und im Vereinsleben (Simon Weinthal: Vorsitzender des Geflügelzuchtvereins; Artur Wolff: Mitbegründer des Spiel- und Sportvereins).

Im Ersten Weltkrieg kämpften mehr als 20 Esenser Juden, Josef Herz, Sohn des Viehhändlers Simon Herz, fiel am 19. April 1917 an der französischen Front.

Der Lehrer August Gottschalk mit seiner Familie

Bei den ersten Bürgerschaftswahlen nach dem Krieg wurde der Lehrer August Gottschalk als erster Jude in das Esenser Stadtparlament gewählt. Ihm folgte 1924 bis 1933 der Viehhändler Simon Weinthal.

Auch in Esens waren die Juden nach der Machtübernahme der Nazis 1933 Repressalien ausgesetzt. Bis 1940 floh etwa die Hälfte der jüdischen Bevölkerung ins Ausland. In der „Pogromnacht“  vom 9. auf den 10. November 1938 wurde die Synagoge niedergebrannt, die jüdischen Männer in das Konzentrationslager Sachsenhausen verschleppt.

1940 mussten die letzten Juden Esens verlassen. Am 9. März meldeten sich der fast 76 Jahre alte Samuel Weinthal und fünf weitere Mitglieder seiner Familie bei der Stadtverwaltung ab. Sie waren die letzten Juden in Esens.

Die Synagoge von Esens

Computerrekonstruktion der Esenser Synagoge

Für die Zeit um 1680 ist in Esens eine jüdische „Schule“, also eine Synagoge als Versammlungsraum und Bethaus, bezeugt. Da die Esenser Juden bis ins 19. Jahrhundert hinein kein eigenes Synagogengebäude besaßen, mussten sie ihren Gottesdienst in gemieteten Räumen im Hintergebäude eines Bürgerhauses halten. Erst 1827 konnte die Gemeinde an der Burgstraße eine Synagoge errichten, die am 15. Februar 1828 feierlich eingeweiht wurde. Nach dem Brandanschlag in der Pogromnacht im November 1938 erhielten die Grundmauern des Gebäudes ein neues Dach. Nachdem das Gebäude als Lagerraum und zuletzt als Garage genutzt wurde, kaufte es die Stadt Esens 2021 und will es nun wieder in den ursprünglichen Zustand zurückversetzen. Eine kulturelle Nutzung durch den Ökumenischen Arbeitskreis Juden und Christen ist für die Zukunft vorgesehen.

Jüdischer Friedhof

Der jüdische Friedhof von Esens.

Der 1702 weit außerhalb der alten Stadtwälle erworbene Friedhof lag am Südrand des Moorweges (heute Mühlenweg). 1938 fand hier die letzte Beerdigung statt.

Nach der Pogromnacht wurde der Friedhof völlig verwüstet. Die meisten Grabsteine wurden in Stücke zerschlagen, Teile davon sollen später bei Ausbesserungsarbeiten am Mühlenweg in Schlaglöchern verschwunden sein.

In den 1970er-Jahren wurde der Friedhof von der Stadt instandgesetzt. Eine Hecke teilte das Gelände in zwei etwa gleich große Flächen. Die östliche Hälfte wurde als Bauplatz verkauft, auf der westlichen, durch eine Pforte abgeschlossene Friedhofshälfte, legte die Esenser Stadtverwaltung in Zusammenarbeit mit dem Landesverband der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen eine Grünfläche an und errichtete darauf ein Mahnmal zum Gedenken an die Mitglieder der jüdischen Gemeinde Esens. 1981/82 wurden die erhaltenen Grabsteine wieder aufgerichtet und mit einer Einfassung aus den noch lesbaren Grabsteintrümmern umgeben.

Jüdische Schule

1819 erwarben die Juden im Neustädter Quartier ein Haus, das sie als Schule und Wohnung für den Lehrer nutzten. 1827 baute die Gemeinde hinter ihrer Synagoge an der Burgstraße ein neues Schulhaus mit einer Wohnung für den Synagogendiener. Als dieses baufällig geworden war, wurde es 1899 durch den Neubau eines Gemeindehauses mit Schulzimmer und Lehrerwohnung ersetzt. Dieses Gebäude, das heutige „August-Gottschalk-Haus“, ist in seiner originalen Bausubstanz bis heute erhalten geblieben.

Im Schuljahr 1852/53 besuchten 13 Kinder (neun Mädchen, vier Jungen) die jüdische Schule, 1858 war die Schülerzahl auf 20 angewachsen. Insgesamt 20 Schülerinnen und Schüler konnten auch 1906 gezählt werden. Nach dem Tode August Gottschalks (1927) wurde die jüdische Volksschule wegen zu geringer Schülerzahl aufgelöst.

In den Neubau des jüdischen Gemeindehauses integriert war das Ritualbad, die Mikwe. Sie wurde aus einer Zisterne mit Wasser gespeist. Die Esenser Mikwe ist wohl das einzige aus dieser Zeit erhalten gebliebene und öffentlich zugängige Ritualbad im nordwestdeutschen Raum.

Erinnerungsarbeit

Ökumenischer Arbeitskreis Juden und Christen in Esens e.V.

Das August-Gottschalk-Haus.

Der Ökumenische Arbeitskreis wurde am 3. März 1987 gegründet. Zwei Ereignisse führten maßgeblich zur Vereinsgründung:

1985 hatte die Stadt Esens vom Landkreis die Genehmigung erhalten, das ehemalige jüdische Gemeindehaus abzureißen, um den in unmittelbarer Nachbarschaft liegenden Parkplatz erweitern zu können. Dagegen regte sich Widerstand. Außerdem wurde 1987 das Buch „Die Juden in Esens“ von Gerd Rokahr, dem ersten Vorsitzenden des Arbeitskreises, veröffentlicht und damit in der Bevölkerung ein Bewusstsein für die jüdische Geschichte der Stadt Esens geschaffen.

Der Verein erwirkte, dass das Gebäude 1988 unter Denkmalschutz gestellt wurde und der Stadtrat seinen Beschluss zum Abriss revidierte. Nach einer umfangreichen Sanierung eröffnete am 29.08 1990 das August-Gottschalk-Haus seine Pforten, und der Ökumenische Arbeitskreis ist seither Träger des Museums.

Der Arbeitskreis pflegt Kontakte zu emigrierten Esenser Juden und ihren Nachkommen. Viele von ihnen besuchen Esens und werden bei dieser Gelegenheit von Vereinsmitgliedern empfangen und durch das Museum sowie die Stadt geführt.

Der Verein ist u.a. Mitglied im Netzwerk „Reise durch das jüdische Ostfriesland“ und verantwortet in einer Arbeitsgruppe die Stolpersteinverlegungen in der Stadt Esens. 

Das jüdische Museum „August-Gottschalk-Haus“

Seit 1990 wird das Gebäude der ehemaligen jüdischen Schule vom Ökumenischen Arbeitskreis Juden und Christen genutzt, der im Erdgeschoss das Museum „August-Gottschalk-Haus“ betreibt, das an die Geschichte der Juden in Ostfriesland erinnert. In den letzten Jahren ist die Ausstellung umfassend erneuert worden. Das Museum wurde zunächst ehrenamtlich geführt, seit 2008 jedoch hauptamtlich. Die derzeitige Museumsleiterin, Anke Kuczinski, leitet das Haus in Personalunion mit dem Museum „Leben am Meer“. Eine enge Kooperation besteht über einen Museumslehrer mit der Carl-Gittermann-Realschule Esens.

Gedenkveranstaltungen

Die wichtigste Gedenkveranstaltung ist in jedem Jahr die Erinnerung an die Zerstörung der Synagoge und die Verfolgung und Ermordung der (Esenser) Juden am 9. November. In einer mit Musik umrahmten Gedenkstunde legt der Ökumenische Arbeitskreis am Gedenkstein neben der ehemaligen Synagoge ein Blumengesteck nieder. Die Feierlichkeit wird mit dem Angebot zum Gedankenaustausch bei Getränken und Speisen abgeschlossen.

Jährlich wird zudem seit 1978 am Volkstrauertag am Denkmal auf dem jüdischen Friedhof am Mühlenweg ein Kranz niedergelegt.

Weitere Veranstaltungen und Sonderausstellungen werden auf der Website des Museums angekündigt.

Stolpersteine

Am 18. März verlegte der Künstler Gunter Demnig die ersten 17 Stolpersteine in Esens. Vorausgegangen war die intensive Recherchearbeit einer Arbeitsgruppe des Ökumenischen Arbeitskreises, die auch anderen Interessierten offen steht. Weitere 15 Stolpersteine wurden am 12. Oktober 2023 verlegt. In den kommenden Jahren sollen alle Esenser Juden, die Opfer des NS-Terrorregimes wurden, Stolpersteine erhalten.

Erste Stolpersteinverlegung in Esens mit Gunter-Demnig und dem Ehepaar Bronckhorst aus den Niederlanden

frauenORT Sara Oppenheimer

Seit 2021 ist Esens „frauenORT“. Nach einer Initiative des Landesfrauenrates Niedersachsen e.V. erhalten Ortschaften mit herausragenden weiblichen historischen Persönlichkeiten dieses Zertifikat. Der Ökumenische Arbeitskreis erwirkte in einem breiten Bündnis mit anderen Institutionen diese Auszeichnung für die jüdische Opernsängerin Sara Oppenheimer (1840-1905), die in Esens geboren wurde und aufgewachsen ist.

Weblink

www.august-gottschalk-haus.de Seite des jüdischen Museums August-Gottschalk-Haus in Esens und des Ökumenischen Arbeitskreises Juden und Christen in Esens e.V. Die Seite enthält zudem Informationen über „Stolpersteine“ und den „Frauenort Sara Oppenheimer“.

Text/Bilder: Jens Ritter