Aurich

Die jüdische Gemeinde in Aurich bestand über einen Zeitraum von zirka 300 Jahren von ihren Anfängen im Jahr 1657 bis zu ihrem Ende am 1. März 1940 und prägte maßgeblich die kulturelle Vielfalt der Region Ostfriesland. Während dieser Jahrhunderte hinterließ sie einen bedeutenden kulturellen und historischen Fußabdruck, der bis heute spürbar ist und ein wichtiges Kapitel in der Geschichte Aurichs darstellt.

Karte

Jüdisches Leben

Die Basis für eine jüdische Gemeinde legte die Hofjudenfamilie von Calman Abraham, die sich 1635 in Aurich niederließ. Im Laufe des 18. Jahrhunderts stieg die Zahl der jüdischen Familien in Aurich deutlich an. Gab es 1690 fünf Familien in der Stadt, so stieg die Zahl auf bereits 14 Familien im Jahre 1736. Im Jahre 1806 lebten in Aurich 26 Familien mit 173 Personen. Ihren Höchststand erreichte die Zahl der jüdischen Einwohner im Jahre 1885 mit 406 Personen, was einem Anteil von 7,5 Prozent an der Gesamtbevölkerung von insgesamt 5.395 Einwohnern entsprach.
   
Etwa 60 Prozent der jüdischen Mitbürger wohnte in der Wallstraße, der Osterstraße, der Marktstraße sowie in der Norderstraße. Wovon lebten sie? 1925 gab es in Aurich z.B. 58 Viehhändler und Schlachter, davon waren 50 Juden und 8 Christen. Außerdem betrieben sie z.B. kleinere Geschäfte für Manufakturwaren, Bekleidung oder Porzellan. Die Auricher Judenschaft galt übrigens unter ihren Zeitgenossen als ausgesprochen orthodox.

Mit der Machtergreifung durch die Nazis 1933, wobei 46,1 Prozent der Auricher die NSDAP wählten, nahmen die Repressalien für die Juden zu, ihre Geschäfte wurden boykottiert, die Schlachter aus der Zwangsinnung ausgeschlossen. Spätestens nach der Reichspogromnacht am 11. November 1938 flohen die Juden aus Aurich, soweit sie dazu in der Lage waren. Am 31. Mai 1939 lebten noch 176 Juden in Aurich, am 18. April 1940 wurde Aurich für judenfrei erklärt. Dieses hing zusammen mit der im Januar 1940 ergangenen Anordnung der Gestapo-Leitstelle Wilhelmshaven: Ausweisung der in Ostfriesland lebenden Juden „aus militärischen Gründen“ bis zum 1. April 1940. Wegen der Grenznähe zu den Niederlanden befürchtete man bei ihnen Kollaboration mit dem Feind.

Die Synagoge von Aurich

Die Synagoge konnte unter anderem mit Spenden der christlichen Nachbargemeinden im Jahre 1810 von Konrad Bernhard Meyer geplant und am 13. September 1811 eingeweiht werden. Sie hatte eine Größe von 9 m X 17 m und lag im rückwärtigen Bereich der Kirchstraße. Sie wurde in der Pogromnacht am 9. November 1938 niedergebrannt. An ihrer Stelle befinden sich seit einer „Woche der Begegnung“ im Jahre 2002 Gedenkstelen mit den Namen von 310 Opfern des Holocaust. 2007 kam eine weitere Säule mit einem rekonstruierten Modell der Synagoge hinzu. Die Gedenkstätte, die vom Hohen Wall aus zugänglich ist, wurde vom Bildhauer Bernd Clemenz Weber geschaffen.

Die zerstörte Synagoge 1938.
Die Gedenkstätte auf dem Synagogenplatz

Jüdischer Friedhof

Der jüdische Friedhof an der Emder Straße konnte 1765 in Betrieb genommen werden, nachdem die Gemeinde bis dahin auf den jüdischen Friedhof in Norden angewiesen war. Die Fläche des Friedhofs musste bereits im Jahre 1811 verdoppelt werden. 353 Personen wurden hier im Laufe der Jahre beerdigt. Die vorerst letzten beiden Beerdigungen erfolgten in den Jahre 1998 und 2007.

Blick über den Jüdischen Friedhof
Auf dem Jüdischen Friedhof

Jüdische Schule

Die jüdische Schule Seite Mitte des 18. Jahrhunderts gab es eine jüdische Schule in Aurich. Zunächst fand der Unterricht in der Synagoge, später in zwei Wohnungen in der Kirchstraße statt. 1865 besuchten fast 80 Kinder die dreiklassige Schule, 1925 waren es rund 40 Kinder. Die neue jüdische Schule in der Kirchstraße 47 wurde am 10. Oktober 1910 als Elementar- und Religionsschule eingeweiht, aber 1938 beim Pogrom nicht zerstört. Das Gebäude wurde nach dem Krieg abgerissen. Am Haus, in dem bis Ende 2017 die Ärztekammer untergebracht war, befindet sich eine Hinweistafel auf die ehemalige Schule sowie eine kleine Stele.

Erinnerungsarbeit

Gedenkplatte am Hohen Wall

Im Oktober 2012 wurde eine 700 Kilogramm schwere Tafel ins Pflaster Ecke Friedhofstraße eingelassen. Die Granitplatte, die von Steinmetz Bernd Clemenz Weber angefertigt wurde, weist den Weg zum Synagogenplatz, was in Hebräisch dort geschrieben steht: Atar Bet HaKnesset = Platz der Synagoge. Außerdem ist darauf eine Menora zu sehen, ein siebenarmiger Leuchter – eines der wichtigsten jüdischen Symbole.

Die Gedenkplatte am Hohen Wall

Bullenhalle

Auf dem Grundstück des heutigen Kinos an der Emder Straße stand früher eine im Jahr 1922 errichtete Viehauktionshalle, die im Volksmund „Bullenhalle“ genannt wurde. Die Halle war ursprünglich ein Zeppelin-Hangar am Flugplatz Wittmundhafen, wo die Ära der Luftschifffahrt bereits 1920 zu Ende gegangen war. Die Halle wurde demontiert und in Aurich als Viehhalle wieder aufgebaut.

Beim November-Pogrom gegen die Juden wurden die jüdischen Menschen aus Aurich in der Nacht auf den 10. November 1938 in dieser Halle zusammengetrieben und drangsaliert. Für die Juden, von denen viele im Viehhandel arbeiteten, war es eine besondere Demütigung, in diese Halle für Tiere eingesperrt zu werden. Nach 1945 wurde die Halle kaum noch genutzt, dennoch wurde sie erst Anfang 2017 abgerissen. Im Kino erinnert seit dem 9. November 2018 eine Gedenkwand an die Ereignisse.

Die Bullenhalle.
Gedenkwand im Foyer des Auricher Kino-Centers.

Ellernfeld

Das Ellernfeld ist ein ehemaliges Kasernen-Areal, es wurde später als Sportplatz genutzt. 1912 war der Kasernenhof hergerichtet, aber nie als solcher genutzt worden. Am 10. November 1938 wurden die jüdischen Männer aus Aurich auf das Gelände getrieben. Von SA-Leuten schikaniert, mussten sie unter den Augen zahlreicher Zuschauer erniedrigende Arbeiten verrichten, Gräben ausheben und Sand in Karren hin- und herschieben. Einen Tag später wurden 42 Männer ins KZ Sachsenhausen gebracht.

2013 wurde auf dem Ellernfeld das Schwimmbad „De Baalje“ eröffnet. Eine Gedenk- und Informationstafel erinnert vor dem Schwimmbad an diesen schikanösen Tag. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Gelände als Zwischenlager für Flüchtlinge genutzt. Ein Gedenkstein erinnert an diese Phase.

Gedenk- und Informationstafel auf dem Ellernfeld.
Detailansicht.

Stolpersteine

2009 beschloss der Stadtrat, auch in Aurich Stolpersteine zu verlegen. Es wurde eine Arbeitsgruppe gegründet, die in Zusammenarbeit mit dem Niedersächsischen Landesarchiv in Aurich Daten und Lebenshintergründe ermittelte. Am 8. November 2011 verlegte der Kölner Künstler Gunter Demnig in der Osterstraße 30 den ersten Stolperstein für Sophie Seckels (1864–1942). Bis jetzt liegen in Aurich 409 Stolpersteine vor 78 Häusern. Sie erinnern unter anderem an 253 ermordete jüdische Mitbürger, davon alleine 99 in Auschwitz. Die Namen und Orte sowie einzelne Biografien können im Buch „Stolperstein-Geschichten Aurich“ (Eckhaus Verlag, Weimar) sowie in der Broschüre „Stolpersteine Aurich“ nachgelesen werden. Die Stolpersteine werden zweimal im Jahr durch ihre Putzpaten gepflegt, die am 9. November jeweils weiße Rosen niederlegen.

Am 9. November legen die Putzpaten weiße Rosen nieder.
Pflege der Stolpersteine

Weblinks

Vgl. Quelle: Reyer, Herbert, in: Obenaus, Herbert, u.a., Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen und Bremen, Bd.1, Göttingen 2005, S.126 – 151

Text/Bilder: Günther Lübbers