Autonomes Handeln – politisch umkämpft. Warum waren religiös verfolgte Minderheiten so wichtig für die Herrlichkeiten?

Von: Stephan Horschitz

Die Ansiedlung und Besteuerung lediglich geduldeter Bevölkerungsgruppen in Neustadtgödens war für die Besitzenden der kleinen Herrlichkeit Gödens von elementarer Bedeutung. In dem kleinen Flecken lebten selbst in seiner Blütezeit um 1740 nur etwas mehr als 500 erwachsene Personen, die das Steueraufkommen des Ortes trugen.[1]  Für die gesamte Herrlichkeit dürften es kaum mehr als 800 Menschen gewesen sein. Ein Fortbestehen dieses winzigen Territoriums hing also davon ab, inwieweit die jeweiligen Verantwortlichen auf Schloss Gödens positive Anreize für potenziell Ansiedlungswillige schufen. Daneben musste aber auch sichergestellt werden, wie sich die Herrlichkeit politisch gegen ein ungleich größeres Ostfriesland behaupten konnte. Die Legitimation, ein eigenes Territorium zu verwalten und über dessen Bewohner zu herrschen, bezogen die auf Schloss Gödens regierenden Familien aus einem umstrittenen Recht, was ihnen in Fragen der Gerichtsbarkeit, des Eigenkirchenwesens und der Steuerhoheit eine Eigenverantwortlichkeit einräumte. Die Irritationen über die rechtlichen Zuständigkeiten zwischen der zentralen Regierung in Aurich und den Herrlichkeiten, waren mit der Erhebung des ostfriesischen Häuptlings Ulrich Cirksena in den Reichsgrafenstand im Jahre 1464 und der Belehnung Ostfrieslands als Reichsgrafschaft entstanden.

Dadurch erlosch formell die 1417 durch Kaiser Sigismund erhaltene Reichsunmittelbarkeit der ostfriesischen Häuptlingsherrschaften, was einer Aufgabe ihrer Souveränität gleichkam.[2] Der sich daraus ergebende Herrschaftsanspruch einer einzigen Häuptlingsfamilie über ganz Ostfriesland wurde nicht von allen Häuptlingen akzeptiert. Ihren Anspruch auf politische Teilhabe untermauerte die von Kaiser Friedrich III. gegebene Garantie, dass die unterlegenen Häuptlinge ihre Rechte, bei Anerkennung der Vormachtstellung der Cirksena, beibehalten sollten. Gleichzeitig festigte der Kaiser ihre Position, indem er die Häuptlinge zu Rittern ernannte. Diese sahen sich somit als gleichberechtigt gegenüber dem Grafenhaus, was auch für den zu dieser Zeit in der Herrlichkeit Gödens herrschenden Edo Boing galt. Die Häuptlingsfamilien waren eine nicht zu unterschätzende politische Größe, ohne deren Akzeptanz das Regieren praktisch unmöglich gewesen wäre.

Bild: Autor/-in unbekannt – Historisches Museum Aurich (photography by Pixelfehler, 2006-06-29), Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=947115

Daher beließ es Graf Ulrich dabei, den Häuptlingen ihr angestammtes Herrschaftsgebiet – die sogenannten Herrlichkeiten – zu belassen und die damit verbundenen Rechte weiterhin zu gewähren. Daraus folgte, dass die Herrlichkeitsbesitzenden ihren Herrschaftsbereich in einer gewissen Unabhängigkeit von der ostfriesischen Regierung verwalteten. Auf Schloss Gödens nahm man sich somit ebenfalls das Recht heraus, den Zuzug von Ortsfremden eigenständig zu bestimmen, was die geduldete mennonitische und jüdische Religionsgemeinschaft miteinschloss. Mit dem Beharren auf der Ausübung ihrer Rechte kam es dadurch immer wieder zu einer Machtprobe mit der ostfriesischen Zentralregierung, die ihrerseits die Herrschaft über das gesamte Gebiet Ostfrieslands für sich alleine beanspruchte.

Dem Anspruch einer souveränen Herrschaft über ein sehr überschaubares Territorium folgte zwangsläufig die Frage nach seiner Finanzierbarkeit. In Gödens mussten neben dem Hofstaat auch die Verwaltung des Landgerichts und der Rentei finanziert werden. Daher war es für die Zukunft der Herrlichkeit enorm wichtig, dass die Herrlichkeitsbesitzer Gewerbezweige und Gewerbetreibende ansiedelten, die ihre Einkünfte sicherten. Vor diesem Problem standen alle Häuptlingsherrschaften und wie sich zeigen sollte, scheiterten im Laufe der Zeit die meisten dieser semiautonom regierten Territorien daran. Von den 21 Häuptlingen und deren Herrschaften zu Beginn der ostfriesischen Grafenzeit 1464 blieben bis zur Übernahme durch das Königreich Hannover 1815 neben Gödens nur noch Dornum, Jennelt und Lütetsburg übrig.[3]

Ein autonomes Agieren stand daher im Selbstverständnis der Herren und Damen auf Schloss Gödens an oberster Stelle und musste dementsprechend auch demonstriert werden. Wie selbstbewusst die damalige Häuptlingsfamilie gegenüber den ostfriesischen Herrschern auftrat, zeigte sich erstmals bereits mehr als 100 Jahre bevor die ersten jüdischen Familien in Neustadtgödens angesiedelt wurden. Ab 1535 gewährten der Häuptling von Gödens, Haro von Oldersum[4] und seine Frau Hebrich, reichsweit gesuchten Vertretern des Täuferreichs von Münster, wie Wolter Schemering oder Hinrich Krechting, Zuflucht auf ihrem Territorium.[5]

Gerhard von Westerburg (1486 – nach 1539) war einer der von Haro von Oldersum und dessen Frau Hebrich aufgenommenen, reichsweit gesuchten Männer, die in Verbindung mit den Täufern standen. Bartholomäus de Bryn der Ältere, Öl auf Leinwand, Kunsthistorisches Museum Wien, 1524.

Beide Männer waren führende Persönlichkeiten in Münster und daher einer breiten Öffentlichkeit bekannt. [6] Obwohl es der Grafschaft Ostfriesland durch ein kaiserliches Dekret verboten war, Täufer in ihrem Land aufzunehmen, konnte die damalige Regentin Anna von Ostfriesland nicht verhindern, dass sich Anhänger dieser Glaubensrichtung in einigen der ostfriesischen Herrlichkeiten aufhielten. In Gödens ging das Häuptlingspaar sogar noch einen Schritt weiter, indem diese reichsweit bekannten und gesuchten Männer ganz offen hohe Ämter bekleiden konnten. Wolter Schemering war als Schreiber auf Schloss Gödens an allen wichtigen Entscheidungen beteiligt. Hinrich Krechting wurde gar als Berater hinzugezogen und erhielt später das hochangesehene Amt des Armenvorstehers. Gerhard von Westerburg musste ebenfalls wegen seiner täuferischen Aktivitäten im Rheinland untertauchen und erhielt Jahre später als reformierter Pfarrer in der Herrlichkeit eine Anstellung. Es hat den Anschein, dass die Häuptlinge von Gödens zunächst die Fähigkeiten dieser Männer ganz pragmatisch für ihre eigenen Zwecke nutzten. Immerhin hatten alle drei Aufgenommenen juristische Kenntnisse und verfügten über langjährige Erfahrungen, die in der Auseinandersetzung mit den ostfriesischen Regenten durchaus gefragt waren. Für die Häuptlingsfamilie war die Aufnahme dieser Leute jedoch riskant, denn nach Reichsrecht standen für die Aufnahme von Täufern oder deren Beherbergung „Schwere ungenade und straff“ [7]. Dennoch reagierte das Umfeld erstaunlich gelassen auf die Neuankömmlinge. Durch ihre hohen Stellungen in der Herrlichkeit fungierten alle drei auch ‚außenpolitisch‘, z. B. als Zeugen bei wichtigen Vertragsabschlüssen. Mit dem ostfriesischen Superintendenten Johannes a Lasco stand Krechting im Austausch und mit dem Reformatoren Albert Hardenberg, der in Sengwarden eine reformierte Pfarrstelle innehatte, soll er sogar freundschaftlich verbunden gewesen sein. In der direkten Nachbarschaft verhandelten Krechting und Schemering mit dem jeverschen Bürgermeister Johann von der Brink und dem Drosten Statius Reineking.[8] Kontakte gab es zudem mit dem in Kirchenfragen sehr bewanderten Remmer von Seediek, der für Maria von Jever eine lutherische Kirchenordnung schrieb.[9]  Niemand nahm   

Anstoß an der Vergangenheit der Männer. Proteste oder gar ein Vorgehen gegen die Häuptlingsfamilie sind weder von der Grafschaft Ostfriesland noch von der Herrschaft in Jever dokumentiert. Offensichtlich wurde die Aufnahme und die Indienststellung von Religionsflüchtlingen in der Herrlichkeit Gödens von allen stillschweigend toleriert.

Die Aufnahme von Verfolgten oder in späterer Zeit die Ansiedlung von geduldeten Religionsgemeinschaften in der Herrlichkeit Gödens diente aber nicht nur einem reinen Pragmatismus zur Optimierung der Regierungsgeschäfte und der wirtschaftlichen Verhältnisse. Sie hatte auch immer einen symbolischen und damit übergeordneten Zweck. Das autonome Handeln der Herrschenden auf Schloss Gödens drückte eine gewisse Unabhängigkeit und ein besonderes Standesbewusstsein gegenüber der ostfriesischen Landesherrschaft aus. Die Ausübung solcher Rechte sollte die ostfriesische Zentralgewalt daran erinnern, dass sie in gewissen Abhängigkeiten zur sogenannten Ritterschaft, dem aus den Häuptlingsfamilien hervorgegangenen Adel, stand.

Die im Zusammenhang mit der Herrlichkeit Gödens oftmals genannte religiöse Toleranz der Herrlichkeitsbesitzer auf Schloss Gödens muss in dieser Hinsicht etwas differenzierter betrachtet werden. In keinem Dokument konnte zweifelsfrei die Ansiedlung von religiösen Minderheiten aufgrund moralischer Gründe belegt werden. Vielmehr ist das Zusammentreffen von fünf Religionsgemeinschaften das Ergebnis eines ständigen Ringens, die Herrschaft über ein kleines Territorium finanziell zu stemmen und politisch zu legitimieren.        


[1] Die Zahlen stammen aus dem Kopfschatzregister der Neustadt von 1737.  Privatarchiv Wedel, Gödens 292, 6.

[2] Haider Munske, Horst (Hg.): Handbuch des Friesischen. Tübingen, 2001, S. 547.

[3] Zum Besitz der von Wedels gehörte neben der Herrlichkeit Gödens auch die bis 1815 bestehenden Herrlichkeit Loga.

[4] Almut Boing, Tochter von Edo Boing, dem ersten Häuptlings von Gödens, heiratete 1480 Hicko von Oldersum. Dessen Sohn Haro erbte 1527 die Herrlichkeit Gödens. Im gleichen Jahr heiratete er Hebrich von Inn- und Kniphausen. Nach Haros Tod im Jahre 1537 regierte Hebrich die Herrlichkeit für ihren unmündigen Sohn.

[5] 1533 geriet Münster unter den Einfluss von Täuferaposteln aus den Niederlanden. Fürstbischof Franz von Waldeck, dessen Bischofssitz Münster war, ließ die Stadt daraufhin belagern. 1535 gelang die Rückeroberung der Stadt. Nur wenige Täufer überlebten die Eroberung, Schemering und Krechting kamen daraufhin über Umwege nach Gödens.

[6] Hinrich Krechting war Kanzler des Münsteraner Königreichs, Wolter Schemering der Mundschenk des 1534 ausgerufenen Königs Johann van Leiden. Schemering war der Neffe von Krechting und holte diesen schließlich in die Herrlichkeit Gödens. Fast, Heinold: Hinrich Krechting. Landschaftsbibliothek BLO II, Aurich 1997, S. 215 – 218, Ostfriesisiche Landschaft. Aurich, 1997.

[7] Das auf dem Reichstag zu Speyer erlassenes Wiedertäufermandat vom 23.04.1529.

[8] Gödenser Heuerprotokolle 1520 – 1580, Privatarchiv von Wedel, Gödens, 2910/1, Nr. 113.

[9] Wolter Schemering schrieb in seiner Funktion als Schreiber der Herrlichkeit Gödens in den Jahren 1541 und 1544 zweimal an Remmer von Seediek. Rüthning, Gustav: Urkundenbuch von Jever und Kniphausen. Hg.: Oldenburger Verein für Altertumskunde und Landesgeschichte, Stalling, Oldenburg, 1932. Nr. 1035 und 1071.

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