
Von: Matthias Süßen
In den jüdischen Gemeinden Ostfrieslands spielte das Vereinswesen eine zentrale Rolle im religiösen, sozialen und kulturellen Alltag. In einer Region, die durch kleinstädtische Strukturen, dörfliche Gemeinschaften und weite ländliche Räume geprägt war, wurden diese Vereine zu wichtigen Stützen des Gemeindelebens. Sie förderten den Zusammenhalt innerhalb der jüdischen Bevölkerung, ermöglichten Bildungsangebote, unterstützten Bedürftige und vermittelten religiöse Inhalte. Besonders in Städten wie Emden, Leer, Aurich oder Norden, aber auch in kleineren Orten wie Bunde, Dornum oder Weener entstand seit dem 19. Jahrhundert ein breites Vereinsleben, das das jüdische Leben vor Ort maßgeblich prägte – bis die nationalsozialistische Verfolgung in den 1930er-Jahren das Vereinsleben zerstörte. Neben der Mitgliedschaft von Jüdinnen und Juden in den christlich dominierten Vereinen ihrer Heimatorte bildeten die rein jüdischen Vereine eine weitere Säule ihres gesellschaftlichen Engegements.
Geschichtlicher Überblick
Erste jüdische Vereinigungen in Ostfriesland
Unter einem „Verein“ versteht man heute eine freiwillige, auf Dauer angelegte, organisatorisch verfasste Verbindung mehrerer Personen zur Verfolgung eines gemeinsamen Zwecks – in der Regel mit Satzung, Mitgliedschaft und gewählten Vorständen. Diese Form bürgerlicher Selbstorganisation ist ein Produkt des 19. Jahrhunderts, das eng mit der rechtlichen Gleichstellung der Bürger im Zuge der Aufklärung und der entstehenden Zivilgesellschaft verbunden ist.
Bereits in früheren Jahrhunderten existierten innerhalb der jüdischen Gemeinden allerdings Vereinigungen, die mit den späteren Vereinen einen hohen Grad an Organisation und Selbstverantwortung teilten – etwa die Chewra Kadischa, die sich seit dem 17. Jahrhundert um Bestattungen nach jüdischen Ritus kümmerten. Auch wenn sie noch nicht dem modernen Vereinsrecht unterlagen, erfüllten sie vergleichbare Funktionen für ihre Gemeinden.
Ähnlich wie die jüdischen Gemeinden selbst entstanden die ersten Vereinigungen in den Städten und verbreiteten sich von dort allmählich in die ländlichen Regionen Ostfrieslands. Als älteste jüdische Gemeinschaft dieser Art gilt die bereits 1661 gegründete Israelitische Kranken- und Beerdigungsbrüderschaft.
Aufschwung im 19. Jahrhundert
Das moderne Vereinswesen etablierte sich im 19. Jahrhundert maßgeblich als Reaktion auf gesellschaftliche Veränderungen und die Industrialisierung. Es diente der Selbstorganisation und dem Austausch in verschiedenen Bereichen, von politischen und sozialen Bewegungen bis hin zu kulturellen und sportlichen Interessen. Das betraf auch die jüdischen Gemeinden. Mit der schrittweisen rechtlichen Gleichstellung der Juden im 19. Jahrhundert erlebte das Vereinswesen einen erheblichen Aufschwung. Eng verzahnt mit den jüdischen Gemeinden waren die Vereine vor allem auf dem Gebiet der Fürsorge, aber auch der religiösen Bildung und im Kulturbereich tätig.
Vielfalt des Vereinswesens
Neben Emden gründeten sich in dieser Zeit in den Städten Aurich, Leer und Norden, aber auch in kleineren Orten wie Weener, Wittmund oder Bunde zahlreiche Organisationen mit unterschiedlichsten Zielsetzungen. Die Spanne reichte von Beerdigungsbruderschaften (Chewra Kadischa), Frauen- und Jugendvereinen über Synagogen- und Bildungsvereine bis hin zu zionistischen Gruppierungen.
Zentral war dabei oft der Gedanke der Wohltätigkeit. So existierten in fast allen Gemeinden Armenvereine, Spendenkassen und Unterstützungsnetzwerke, die sich der Krankenpflege, Versorgung Bedürftiger oder der Ausstattung junger Bräute widmeten. Beispielhaft ist etwa Aurich, wo mit dem Israelitischen Wohltätigkeitsverein, dem Israelitischen Frauenverein und dem Mädchenverein Malbisch Arumim gleich mehrere Organisationen eng zusammenarbeiteten.
Frauen als tragende Säulen
Eine besondere Rolle spielten jüdische Frauenvereine. Sie organisierten Spendenaktionen, versorgten Kranke und Bedürftige, unterstützten Mädchen und junge Frauen bei der Ausstattung oder engagierten sich für die Verschönerung der Synagoge und prägten so das soziale Leben in ihren Gemeinden maßgeblich. Die handelnden Akteure waren über lange Zeiträume aktiv und sorgten so für Kontinuität in der Vereinsarbeit. In Leer etwa leitete Maria Rosenberg über sechs Jahrzehnte den dortigen Frauenverein. In Emden wirkten Frau B. Selig, Frau de Leuw und viele andere aktiv in mehreren Frauenorganisationen mit. Ihre Namen stehen stellvertretend für das oft über Generationen andauernde Engagement ostfriesischer Jüdinnen.

Breite Vereinstätigkeit
Neben der sozialen Funktion kam den Vereinen auch eine religiös-erzieherische und kulturelle Rolle zu. In vielen Orten bestanden Talmud-Tora-Vereine, die sich der religiösen Unterweisung jüdischer Kinder widmeten. Daneben entstanden Jugendbünde, Literatur- und Sportvereine, etwa der Jüdische Jugendbund in Emden oder Weener, die insbesondere jüngeren Gemeindemitgliedern Raum zur Identitätsbildung und Selbstorganisation boten.
Zionismus
Der Zionismus trat erstmals Anfang des 20. Jahrhunderts in Emden in Erscheinung. 1901 gründeten 35 jüdische Bürger die Ortsgruppe „Lemaan Zion“ der Zionistischen Vereinigung für Deutschland. Wie im übrigen Reich fand diese Bewegung nur bei einem sehr geringen Teil der jüdischen Bevölkerung Anklang. Die Gemeindeleitung um Rabbiner Dr. Löb und Lehrer Selig stand dem Zionismus skeptisch bis ablehnend gegenüber und bezeichnete die Anhänger des Zionismus in Gemeindeversammlungen als „vaterlandslose Gesellen“.
Bürgerliche Integration und gesellschaftliches Engagement
Neben den rein jüdischen Vereinen gab es Beispiele von jüdischen Männern, die Mitglieder in nichtjüdischen Bürgerwehren oder Schützenvereinen waren, wie es aus Dornum oder Neustadtgödens belegt ist. In anderen Orten konnten jüdische Jugendliche Sportvereinen beitreten. Beispielhaft sei hier Walter Pinto vom TuS Weener genannt. Moritz und Hermann de Vries engagierten sich in der Freiwilligen Feuerwehr der Stadt. Laut Stephan Horschitz war die Einbindung der jüdischen Bevölkerung in den christlich dominierten Vereinen überall auf der ostfriesischen Halbinsel gelebte Praxis. Er kommt in seinem Bericht über die Vereinslandschaft in Neustadtgödens zu der Überzeugung, dass jüdische Vereine oftmals als Reaktion auf die sich langsam öffnenden Gemeindestrukturen entstanden sind.
Zwischen Anpassung und Abwehr: Jüdische Selbstbehauptung und Integration in der Weimarer Republik
Während der Zeit der Weimarer Republik gründeten sich Ortsgruppen des Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, die sich für die Bürgerrechte und die gesellschaftliche Gleichstellung der jüdischen Bevvölkerung einsetzte und versuchte, Judentum und Deutschtum miteinander zu vereinbaren. Zudem gab es eine Landesgruppe des Agudas Jisroel, die den Zionismus ablehnte. Ebenfalls in der Zwischenkriegszeit entstanden in Ostfriesland Ortsgruppen des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten (RjF), etwa in Emden, Leer, Weener und Norden. Jüdische Kriegsveteranen hatten die Organisation 1919 gegründet, um öffentlich gegen die weitverbreitete antisemitische Behauptung Stellung zu beziehen, jüdische Männer hätten sich im Ersten Weltkrieg dem Fronteinsatz entzogen und seien mitverantwortlich für die deutsche Niederlage gewesen.
Die Ortsgruppen in Ostfriesland organisierten Treffen ehemaliger Frontsoldaten, pflegten das Andenken an gefallene Kameraden und machten den Einsatz jüdischer Frontsoldaten im Ersten Weltkrieg sichtbar.
Das waren die Anfänge einer zaghaften Integration jüdischer Ostfriesen in ihre lokale Umgebung – eine Integration, die mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten zerstört wurde.
Verfolgung, Auflösung, Vernichtung
Mit dem Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft ab 1933 wurden die jüdischen Vereine zunehmend entrechtet, überwacht, verboten oder durch Repression zur Selbstauflösung gezwungen. Die Vereinsstrukturen, die einst das Gemeindeleben trugen, brachen zusammen. Mitglieder wurden verfolgt, inhaftiert, deportiert oder zur Emigration gezwungen. Was bleibt, sind bruchstückhafte Quellen: Vereinsregister, Mitgliederlisten, Erinnerungen, die von einem versuchten Fortbestehen zeugen – und von der Zerstörung eines reichen sozialen Geflechts.
Das Vereinswesen in den einzelnen Gemeinden
Emden – Zentrum jüdischen Vereinslebens in Ostfriesland
Emden nahm innerhalb des jüdischen Lebens in Ostfriesland eine besondere Stellung ein. Die Stadt verfügte über die größte jüdische Gemeinde der Region und war zugleich durch ihre städtische Eigenständigkeit weniger stark von den landesherrlichen Restriktionen betroffen, die andernorts das jüdische Leben einschränkten. Diese vergleichsweise günstigen Rahmenbedingungen förderten nicht nur die Ansiedlung jüdischer Familien, sondern auch die Herausbildung eines außergewöhnlich vielfältigen Vereinswesens. Neben der bereits oben erwähnten Israelitischen Kranken- und Beerdigungsbrüderschaft entstanden im Laufe der Jahrhunderte zahlreiche weitere Organisationen mit religiösen, sozialen, wohltätigen und kulturellen Zielsetzungen: von Frauen- und Jugendvereinen über Bildungsinitiativen wie dem Talmud-Tora-Verein bis hin zu zionistischen Gruppen und Vereinigungen für durchreisende Bedürftige. Um 1930 bestand in Emden eine „Örtliche Zentrale für jüdische Wohlfahrtspflege“, die acht Wohltätigkeitsvereine koordinierte – ein deutlicher Ausdruck des hohen Organisationsgrades und der Bedeutung, die gemeinschaftlichem Handeln in der Emder jüdischen Gemeinde beigemessen wurde.
Norden
Auch in Norden, einer der ältesten jüdischen Gemeinden Ostfrieslands war das Vereinswesen im Bereich der Wohltätigkeit und sozialen Unterstützung besonders stark ausgeprägt. Die 1750 gegründete Kranken- und Beerdigungsbruderschaft war einer der wichtigsten Vereine der Gemeinde und übernahm Aufgaben im Bestattungswesen sowie in der Unterstützung Bedürftiger. Vereine mit einem ähnlichen Zweck waren die Jüdische Armenpflege (eine Spendenkasse zur Unterstützung Hilfsbedürftiger), die Jüdische Wanderfürsorge (ein Versorgungsverein für Durchreisende) sowie der Israelitischen Frauenverein, der bereits um 1800 gegründet worden war. Dieser kümmerte sich unter anderem um die Krankenpflege und Hilfe für notleidende Gemeindemitglieder.
Ein weiteres wichtiges Element war der Talmud-Tora-Verein, der sich der religiösen Unterweisung der jüdischen Jugend widmete. Unter der Leitung von Jacob Aschendorff junior zählte der Verein im Jahr 1932 zehn aktive Mitglieder. Die Existenz eines solchen Vereins unterstreicht die Bedeutung, die der religiösen Bildung innerhalb der Gemeinde beigemessen wurde.
Leer
Innerhalb der jüdischen Gemeinde in Leer gab es in ihrer Spätphase während der Weimarer Zeit ein dichtes Netz an Vereinen, die auf religiösem, sozialem und erzieherischem Gebieten tätig waren. Maßgeblich waren dabei die großen Wohltätigkeitsvereine, allen voran der Männerverein Gemiluth Chassodim und der Frauenverein, die jeweils etwa 70 bis 75 Mitglieder zählten. Letzterer wurde über viele Jahrzehnte von Maria Rosenberg geleitet, die bis zu ihrem Tod im Jahr 1928 über 60 Jahre lang prägend für die soziale Arbeit der Gemeinde war.
Daneben existierten mit dem Verein Frieden (Scholaum) und dem Armenverein weitere Organisationen, die die Unterstützung Bedürftiger als Vereinszweck hatten. Auch der Jugendbund (unter Leitung von L. Mergentheim mit rund 50 Mitgliedern) und der Waisenhausverein zur Unterstützung des Waisenhauses in Emden spielten eine wichtige Rolle im Bildungs- und Fürsorgewesen.
Um 1930 schlossen sich die Wohlfahrtsvereine (Männerverein, Frauenverein, Armenverein und Verein Frieden) zur Örtlichen Zentrale für jüdische Wohlfahrtspflege zusammen und bildeten so eine Organisation, die in Ostfriesland ihresgleichen sucht.
Aurich
Aurich war Heimat der zweitgrößten jüdische Gemeinde Ostfrieslands und über Jahrhunderte ein bedeutendes religiöses Zentrum. Als Sitz des Landrabbinats bis ins 19. Jahrhundert prägte die Stadt das religiöse Leben der Region maßgeblich. Die 1811 eingeweihte Synagoge am Hohen Wall, finanziert durch Spenden aus der gesamten Stadt, zeugt von der tiefen Verwurzelung der jüdischen Gemeinde in der Stadt. Das Vereinsleben in Aurich war vielfältig und spiegelte die sozialen und religiösen Bedürfnisse der Gemeinde wider. Der 1887 gegründete Israelitische Wohltätigkeitsverein unterstützte Bedürftige durch zinslose Darlehen und Krankenhilfe. Der Israelitische Frauenverein, bereits 1802 ins Leben gerufen, engagierte sich in der Krankenpflege und sozialen Unterstützung. Der Mädchenverein Malbisch Arumim kümmerte sich um die Ausstattung bedürftiger junger Frauen, insbesondere für Hochzeiten. Weitere Vereine wie der Israelitische Jünglingsverein und der Talmud-Tora-Verein förderten die religiöse Bildung und das Gemeinschaftsgefühl unter Jugendlichen. Die enge Zusammenarbeit dieser Organisationen stärkte den Zusammenhalt der Gemeinde und unterstrich ihre soziale Verantwortung.
Esens
In Esens waren die jüdischen Vereine hauptsächlich auf dem Gebiet der Wohlfahrt und der Förderung der religiösen Bildung aktiv. Zwei Vereine prägten das Gemeindeleben: die Männer-Chevre, gegründet bereits 1820, und die Frauen-Chevre, die seit 1850 bestand. Beide Vereinigungen widmeten sich der Unterstützung Bedürftiger sowie dem Bestattungswesen und übernahmen damit zentrale Aufgaben im Gemeindeleben.
Wittmund
Auch in Wittmund war das Vereinswesen eine tragende Säule der jüdischen Gemeinde. Das soziale prägten vor allem zwei Vereine: der Wohltätigkeitsverein Gemiluth Chassodim, der sich der Unterstützung Hilfsbedürftiger widmete, und der Israelitische Frauenverein, der mit ähnlicher Zielsetzung tätig war. Beide Organisationen waren vergleichsweise klein, verfügten aber über eine engagierte Mitgliedschaft – 1924 zählte der Männerverein 16, der Frauenverein 18 Mitglieder.
Eine Besonderheit war die 1922 von Lehrer Moritz Lachmann initiierte Ortsgruppe des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens. Mit ihren 18 Mitgliedern setzte sich die Gruppe für die staatsbürgerliche Gleichstellung der Juden und gegen antisemitische Tendenzen ein.
Neustadtgödens
In der jüdischen Gemeinde von Neustadtgödens entstand ab der Mitte des 19. Jahrhunderts ein breites jüdisches Vereinswesen. Den Anfang machte 1860 der Verein Brautschatz, der unverheiratete, mittellose Frauen durch die Bereitstellung einer Aussteuer unterstützte. Als erster nachweisbarer jüdischer Verein in der Herrlichkeit Gödens erfüllte er eine wichtige soziale Funktion und trug gleichzeitig zur Sicherung familiärer Lebensperspektiven bei.
Bereits wenige Jahre später, 1867, folgte die Gründung der Kranken- und Beerdigungsbruderschaft, die sich sowohl um die Pflege kranker Gemeindemitglieder als auch um die rituelle Bestattung Verstorbener kümmerte. Ergänzt wurden diese Initiativen durch den Israelitischen Frauenverein, der ausschließlich jüdischen Frauen offenstand und soziale Unterstützung innerhalb der weiblichen Gemeindemitglieder leistete.
Weener
In der jüdischen Gemeinde Weener entwickelte sich im 19. Jahrhundert ein aktives Vereinsleben, das die soziale Unterstützung, religiöse Praxis und die Förderung der Jugend zum Ziel hatte. So war die 1876 gegründete Kranken- und Beerdigungsbrüderschaft (Chewra Kadischa) mit ihren rund 26 Mitgliedern für Krankenpflege und Bestattungswesen verantwortlich. Der Israelitische Frauenverein, gegründet 1847/48, war eine tragende Säule der gemeindlichen Wohlfahrt. Er unterstützte hilfsbedürftige Frauen und Mädchen und zählte 1932 immerhin 42 Mitglieder, was eine bemerkenswerter Zahl für eine kleine Landgemeinde ist.
Daneben gab es einen Frauenverein zur Verschönerung der Synagoge, der seit 1901 bestand, sowie den Jüdischen Jugendbund, der sich unter der Leitung von Moritz de Vries um die religiöse und kulturelle Bildung junger Gemeindemitglieder kümmerte. Auch eine Ortsgruppe des Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens war in Weener aktiv. Sie setzte sich – wie andernorts – für die Integration jüdischer Bürger in die deutsche Gesellschaft und gegen antisemitische Tendenzen ein.
Bunde – Kleine Gemeinde mit großer Vereinskultur
Trotz ihrer überschaubaren Größe verfügte die jüdische Gemeinde in Bunde über eine gut organisierte Vereinslandschaft. Der Wohltätigkeits- und Bestattungsverein Chewra Kadischa kümmerte sich um die Pflege Kranker sowie um das Bestattungswesen nach jüdischem Ritus und zählte 1932 unter der Leitung von David Heß 19 Mitglieder. Der Israelitischen Frauenverein, der unter der Leitung der Ehefrauen von M. Benima und J. Gerson für soziale Hilfsleistungen, insbesondere für Frauen und Mädchen, sorgte.
Ein weiteres Beispiel für die Breite des Engagements war der Verein Chewra Bachurim, ein Wohltätigkeitsverein für Jünglinge, der unter der Leitung von Julius Watermann stand.
Die enge Verzahnung zwischen Gemeindeleitung und Vereinswesen zeigt sich auch daran, dass Watermann nicht nur Vereinsvorsitzender, sondern 1932 zugleich Erster Gemeindevorsteher, Schatzmeister und Schriftführer war.
Dornum
In der kleinen Gemeinde zeigt sich, wie weit die jüdische Bevölkerung spätestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts fest in das gesellschaftliche Leben des Ortes integriert war. Besonders bemerkenswert ist die Beteiligung jüdischer Bürger an überkonfessionellen und kommunalen Vereinigungen: So zählten sie zur 1838 gegründeten Bürgerwehr, einer Institution, die traditionell der städtischen Selbstverteidigung diente. Auch in den Mitgliederlisten weiterer Vereine – etwa des örtlichen Schützenvereins – finden sich jüdische Namen.
Ein vielfältiges Kapitel jüdischer Regionalgeschichte
Das jüdische Vereinswesen in Ostfriesland war organisatorisch und personell eng mit den Gemeinden verzahnt. Es ist daher Ausdruck eines aktiven, vielfältigen sowie in vielen Feldern selbstorganisierten Zusammenlebens innerhalb der Gemeinden, die auf Hilfe von außen nicht hoffen konnten. Die jüdischen Vereine kümmerten sich daher hauptsächlich um soziale, aber auch um religiöse und kulturelle Bedürfnisse ihrer Mitglieder. Sie stärkten den innerjüdischen Zusammenhalt, ermöglichten Bildung und unterstützten Bedürftige. Dabei reichte das Spektrum vom traditionellen Wohltätigkeitsverein über Frauen- und Jugendvereine bis hin zu modernen politischen und zionistischen Gruppierungen.
Die nationalsozialistische Verfolgung führte ab 1933 zur gewaltsamen Zerschlagung dieser lebendigen Vereinslandschaft. Nur in Fragmenten sind ihre Strukturen, Namen und Wirkungsfelder überliefert – in Gemeindebüchern, Erinnerungen und Archivalien. Umso wichtiger ist es, dieses Kapitel jüdischer Geschichte Ostfrieslands sichtbar zu machen, zu dokumentieren und in das regionale Gedächtnis zurückzuholen.
Mehr Forschung zu diesem Thema wäre dringend wünschenswert.Viele kleinere Gemeinden und ihre Vereinsaktivitäten sind bislang kaum untersucht worden. Eine systematische Aufarbeitung könnte nicht nur zur jüdischen Geschichte Ostfrieslands, sondern auch zur allgemeinen Vereins- und Alltagsgeschichte ländlicher Räume im 19. und frühen 20. Jahrhundert wichtige Erkenntnisse liefern. Das Vereinswesen war bis zu seiner gewaltsamen Auslöschung ein Spiegel jüdischen Lebens. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dieser Vereinslandschaft steht vielerorts noch am Anfang und verdient mehr Aufmerksamkeit.