Erster Weltkrieg – Anfang vom Ende

Die nationale Euphorie, die der Beginn des Ersten Weltkrieges in Deutschland entfachte, wurde auch von den jüdischen Organisationen getragen, wie der Aufruf des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens zeigt. Quelle: Bildarchiv Jüdischer Kulturbesitz, Berlin

Von: Stephan Horschitz

Seit ihrer bürgerlichen Gleichstellung dienten auch jüdische Männer in den deutschen Armeen. Für die männliche jüdische Bevölkerung Neustadtgödens finden sich bereits seit den 1870er Jahren Musterungs- und Einzugsbescheide in die umliegenden preußischen Regimenter.[1] Der starke Einfluss der Antisemiten im Militär machte es seit der Mitte der 1880er Jahre jüdischen Soldaten jedoch unmöglich, eine militärische Karriere zu machen, sodass sie z. B. nicht in den Offiziersrang aufrücken konnten. Kaiser Wilhelm II. hatte diese Entwicklung noch unterstützt, indem er 1890 eine Verordnung herausgeben ließ, in der nur solche Bewerber „aus bürgerlichem Hause“ in Betracht gezogen werden sollten, „in denen neben der Liebe zu König und Vaterland eine christliche Gesittung gepflegt und anerzogen würde.“[2] Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 bewirkte eine Welle des Patriotismus, der auch von jüdischen Interessenverbänden getragen und gefördert wurde.

„Glaubensgenossen! Wir rufen Euch auf, über das Maß der Pflicht hinweg Eure Kräfte dem Vaterland zu widmen!“[3] oder: „Deutsche Juden – In dieser Stunde gilt es aufs Neue zu zeigen, dass wir stammesstolzen Juden zu den besten Söhnen des Vaterlandes gehören (…)“ [4]

Fast 100.000 jüdische Männer waren bis zum Kriegsende aktiv an den Kämpfen beteiligt. Ob sich diese Euphorie in der jüdischen Gemeinde Neustadtgödens unter der stetig schrumpfenden Einwohnerzahl durchschlug, ist nicht belegt. Dass jüdische Soldaten, ebenso wie ihre christlichen Kameraden, während des Ersten Weltkrieges ihre Gesundheit und ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben, verdrängte die antisemitische Propaganda des späteren NS-Regimes fast ausnahmslos aus dem kollektiven Gedächtnis der deutschen Gesellschaft. Bisher konnten 25 jüdische Weltkriegsteilnehmer ermittelt werden, die in Neustadtgödens oder in der Landgemeinde Gödens geboren wurden und am Weltkriegsgeschehen teilgenommen haben:

Auflistung der bisher bekannten jüdischen Soldaten des Ersten Weltkrieges aus der jüdischen Gemeinde Neustadtgödens

NameVornamegeborenDienstgrad
Cohen
Cohen
Cohen
Cohen
Cohen
de Taube
de Taube
de Taube
de Taube
de Taube
de Taube
Haas
Hardt
Josephs
Josephs
Stein
Stein
Stein
Sternberg
Sternberg
Sternberg
Weinberg
Weinberg
Weinberg
Weinberg
Daniel
Erich
Friedrich
Heimann
Moses Wolf
Albrecht
Fritz
Karl
Kurt
Robert
Siegfried
Josef
Ludwig
Leopold
Walter
Gustav
Magnus
Richard
Max Siegfried
Philipp
Salomon
Alfred
Leeser
Max
Paul
20.08.1876
06.10.1898
07.12.1888
04.10.1883
10.01.1876
29.11.1899
15.04.1889
30.06.1882
08.07.1892
16.11.1896
24.12.1885
02.02.1892
16.01.1886
04.01.1896
01.01 1897
29.10.1883
20.07.1877
09.12.1885
05.04.1886
26.03.1894
13.01.1887
28.02.1896
09.06.1881
01.05.1884
08.12.1895
unbekannt
unbekannt
Matrose
Musketier
Sergeant
unbekannt
Gefreiter
Unteroffizier
unbekannt
unbekannt
Unteroffizier
Landsturmmann
Füsilier
Obermatrose der Artillerie
unbekannt
Unteroffizier
unbekannt
Gefreiter
Musketier und Unteroffizier
unbekannt
unbekannt
unbekannt
unbekannt
Landsturmmann
Füsilier
David Cohen, hier im Alter von 22 Jahren, wurde wegen Tapferkeit während des ersten Weltkrieges das Eiserne Kreuz verliehen wurde. Original Synagoge Dornum. Fotoarchiv, Museum im Landrichterhaus

Durch die hohe Abwanderungsrate war die Zahl der in der Landgemeinde verbliebenen wehrfähigen jüdischen Männer jedoch stark zurückgegangen. Dennoch sind mindestens sieben jüdische Soldaten bekannt, die zu dieser Zeit in der Synagogengemeinde Neustadtgödens Mitglied waren und von denen vermutet werden kann, dass sie an Kriegshandlungen beteiligt gewesen waren:

Heiman Cohen[5], Friedrich Cohen, Robert de Taube, Richard Stein, Alfred Weinberg, Leeser Weinberg, Max Weinberg. 

Hinzu kam der Lehrer Arnold Seliger, der jedoch nicht gebürtig aus der Gemeinde Gödens stammte und nach einer vergleichsweise kurzen militärischen Einsatzzeit wieder sein Lehreramt im Ort aufnahm.

Robert de Taube leistete seinen Kriegsdienst von 1916 bis 1918 unter anderem in einem Berliner Garderegiment. Ob er tatsächlich an Kriegshandlungen beteiligt war, ist ungewiss. Besonders tragisch ist das Schicksal der beiden Brüder Max und Paul Weinberg, die im heutigen Landrichterhaus aufgewachsen waren. Max Weinberg verstarb am 09.03.1917 infolge einer Krankheit in Beverloo (Belgien). Zwölf Wochen später fiel sein jüngerer Bruder Paul in Frankreich.

Die ablehnende Haltung der Militärs, jüdische Soldaten zu befördern, konnte während des Krieges nicht mehr eingehalten werden. Schon am 29. August 1914 lag eine Verordnung des Kriegskabinetts vor. Darin beschloss es eine Erleichterung für die Beförderung von Offizieren in Reserveregimentern, die es auch jüdischen Soldaten ermöglichte, in den Offiziersrang niedrigen Grades aufzusteigen. Möglicherweise hatte diese Entscheidung damit zu tun, dass zu Kriegsbeginn ein Mangel an Offizieren bestand, der behoben werden sollte.[6] Daraufhin erhielten einige der aus der jüdischen Gemeinde stammenden, jedoch zum Zeitpunkt des Ersten Weltkrieges bereits verzogene Soldaten, militärische Auszeichnungen oder wurden befördert. Sowohl Daniel Cohen, der durch seine Heirat nach Dornum verzogen war, als auch Philipp Sternberg, der bereits seit einigen Jahren in Jever lebte, erhielten für ihren Einsatz das Eiserne Kreuz. Moses Wolf Cohen wurde zum Sergeanten, Gustav Stein, Karl de Taube, Siegfried de Taube und Max Siegfried Sternberg zu Unteroffizieren befördert.

Die genannten Beispiele blieben für jüdische Kriegsteilnehmer jedoch die Ausnahme. In der Provinz Hannover erlangten lediglich 531 jüdische Soldaten den Rang eines Unteroffiziers oder Sergeanten.[7]

Trotz des Einsatzes, den der jüdische Bevölkerungsanteil während des Krieges leistete, gab es massive Vorwürfe wegen der angeblich mangelnden Bereitschaft, sich angemessen an den Kriegslasten zu beteiligen. So sprach sich schon im August 1914 Heinrich Claas, der Führer der ‚Alldeutschen‘, einer völkischen, antiklerikalen interfraktionellen Vereinigung von radikalen Antisemiten, für eine „völkische Feldbereinigung gegen die Juden“ aus.[8] In der Öffentlichkeit wurde behauptet, sie seien Drückeberger und Pazifisten und somit weniger patriotisch als die übrige Bevölkerung. Die jungen Männer würden sich vor der Wehrpflicht, besonders aber vor Fronteinsätzen, drücken. Infolgedessen machte die Öffentlichkeit sie für militärische Rückschläge verantwortlich. Bereits Ende des Jahres 1915 häuften sich beim preußischen Kriegsministerium die Beschwerden über ‚jüdische Drückebergerei‘.[9]

Die antijüdische Propaganda, die vor allem von dem `Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund` betrieben wurde, veranlasste den Reichsbund jüdischer Frontsoldaten zu Gegendarstellungen, wie in dem Flugblatt: „An die deutschen Mütter!” vom 4. Mai 1924, dem Tag der Reichstagswahlen.
Quelle: Bundesarchiv, Koblenz

Der preußische Kriegsminister sah sich im Oktober 1916 veranlasst, eine so genannte ‚Judenzählung‘ durchzuführen.[10] Die Auswertung dieser Zählung widersprach den Behauptungen. Der prozentuale Anteil der jüdischen Soldaten entsprach dem des christlichen Bevölkerungsanteils, die Verluste ebenso. Dennoch oder gerade deshalb blieben die Ergebnisse dieser Statistik unveröffentlicht. Die Behauptung des unpatriotischen Verhaltens konnte so nicht widerlegt werden. Ganz im Gegenteil – die unter Verschluss gehaltenen Zahlen verschärften die antisemitische Stimmung in Gesellschaft und Militär.

Zu den von den Nazis umgebrachten Frontsoldaten zählt auch Richard Stein, hier mit seiner Frau Rosa. Beide kamen in den Vernichtungslagern im Osten ums Leben.
Quelle: Yad Vashem Item Nummer: 1424360  

Für die in dem Flecken Neustadtgödens geborenen wehrfähigen jüdischen Männer lässt sich sogar eine Umkehrung der prozentualen Verhältnisse erkennen. Die gemittelte Geburtenrate der jüdischen Bevölkerung lag im Zeitraum von 1875 bis 1900 bei 14,5 Prozent der Gesamtbevölkerung.[11] In den offiziellen, personenbezogenen Verlustlisten der preußischen Regierung sah das Bild jedoch ganz anders aus. In diesen Listen, die Aufschluss über die Vermissten, über Verwundung, Gefangennahme oder Tod der Soldaten gaben, waren die in Neustadtgödens geborenen jüdischen Soldaten mit ca. 27 Prozent weit überproportional vertreten. Von den insgesamt 55 Nennungen des Geburtsortes Neustadtgödens in den Verlustlisten fielen 15 auf jüdische Soldaten.[12] Entweder gab es wesentlich weniger christliche Männer, die das Militär während des Krieges einzog oder die jüdischen Soldaten wurden sehr viel häufiger verwundet bzw. getötet als ihre christlichen Kameraden. Diese Häufung, zumindest für Neustadtgödens, widerspricht deutlich dem Vorwurf, dass sich jüdische Männer vor dem Kriegsdienst gedrückt hätten. Insgesamt wurden elf jüdische Soldaten verwundet und sieben weitere starben im Verlauf des Krieges. Von den 18 heimgekehrten Soldaten kamen fünf in den Konzentrations- und Vernichtungslagern der Nationalsozialisten ums Leben.


[1] Alphabethische Musterungslisten der Geburtsjahre 1875, 1885, 1897-1899. Niedersächsisches Landesarchiv, Staatsarchiv Aurich, Rep. 44, Nr. 685, 687 und 690-692.

[2]Messerschmidt, Manfred: Juden im preußisch-deutschen Heer. In: Deutsche jüdische Soldaten. Ausstellungskatalog, Berlin, 1996, S. 46.

[3] Flugblatt „Aufruf an die Deutschen Juden“ vom ‚Centralverein Deutscher Juden‘. Berlin, 1. August 1914.

[4]Gemeinsamer Aufruf des ‚Reichsverein der Deutschen Juden‘ und der ‚Zionistischen Vereinigung für Deutschland‘. In: Jüdische Rundschau. Heft 32, Berlin, 7. August 1914.

[5] Heimann Cohen war Viehhändler in Neustadtgödens, zog dann nach Borgstede bei Varel und lebte seit 1927 in Oldenburg. Der genaue Zeitpunkt, wann er Neustadtgödens verließ, ist nicht dokumentiert.

[6] Rosenthal, Jacob: Die Ehre des jüdischen Soldaten. Die Judenzählung im Ersten Weltkrieg und ihre Folgen. Frankfurt a. M., 2007, S. 41.

[7]Segall, Jacob: Die deutschen Juden als Soldaten im Kriege 1914-1918, eine statistische Studie. Berlin, 1922, S.36.

[8]Garz, Detlef/Janssen, Gesine: Über den Mangel an Charakter des deutschen Volkes. In: Oldenburgische Beiträge zu jüdischen Studien. Band 18. Oldenburg, 2006, S. 88.

[9]Rosenthal, Jacob: Die Ehre des jüdischen Soldaten. Die Judenzählung im Ersten Weltkrieg und ihre Folgen. Frankfurt a. M., 2007, S. 47.

[10] Adolf Wild von Hohenborn (1860-1925) initiierte als Kriegsminister am 16. Oktober 1916 die so genannte ‚Judenzählung‘. Bei ihrer Durchführung war von Hohenborn jedoch nicht mehr im Amt, da er auf Bestreben Hindenburgs von Kaiser Wilhelm II. in den Ruhestand versetzt wurde.

[11] Von 1875-1900 wurden in Neustadtgödens 584 Kinder geboren. Darunter waren insgesamt 85 aus jüdischen Familien. Dabei lag die Verteilung bei 48 Jungen und 37 Mädchen. Niedersächsisches Landesarchiv, Staatsarchiv Oldenburg, Rep. 450, Akz. 2009/47 Nr. 375 bis 400.

[12] Die Verlustlisten des Ersten Weltkrieges können im Internet über den Verein für Computergenealogie eingesehen werden. Dem Verein liegen seit Herbst 2011 alle Seiten der Verlustlisten des Ersten Weltkrieges in gescannter Form vor. Diese Scans sind über die Datenbank www.des.genealogy.net/eingabe-verlustlisten einsehbar. Bei den ca. 31.000 Seiten umfassenden Listen ergibt sich eine Gesamtmenge von 8,3 Mio. Datensätzen. Gesucht wurde nach dem Ort Neustadtgödens, Gödens und Neustadt/Aurich. Aktualisiert am 11.12.2020.

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